34° Ost
ihm durch einen neuen und sehr umfassenden Parteibeschluß aufgezwungen worden, wonach die Nominierung eines Kandidaten für die Vizepräsidentschaft ausschließlich den Delegierten zum Parteikonvent oblag.
Alles in allem war Bailey ein Mitkandidat gewesen, den er akzeptieren konnte. Er hatte seine Nützlichkeit unter Beweis gestellt, als es ihm gelungen war, eine knappe Wahl durch seinen persönlichen Einsatz zu gewinnen. Er fand bei jener Allianz von Intellektuellen, Pazifisten und Theoretikern Anklang, die sich sehr vernehmbar des unglaublichen Durcheinanders in der amerikanischen Politik der frühen siebziger Jahre erinnerten – des Watergate-Skandals und sogar des traurigen Schauspiels eines wegen Korruption aus dem Amt geschiedenen Vizepräsidenten. Diese winterharten Protestierer mit weit zurückreichendem Gedächtnis waren Baileys Wähler – und ohne sie wäre die Partei beim Urnengang auf der Strecke geblieben. Das Problem bestand jetzt nur darin, so unbeherrschte und wankelmütige Parteigänger mit friedlichen Mitteln bei der Stange einer Regierung zu halten, die sich auf Mäßigung und Versöhnung festgelegt hatte.
Das warme Licht des Raumes schuf eine Insel der Sicherheit und Behaglichkeit inmitten des feuchten Nebels, der sich aus einem bleigrauen Himmel auf die Stadt herabgesenkt hatte.
Tatsache ist, dachte der Präsident ein wenig bitter, dass Talc besser in dieses Haus passt als ich. Das Gesicht des Vizepräsidenten war schmal, asketisch, und einige leichte Furchen an den richtigen Stellen verliehen ihm jenen Ausdruck, der Zeitungs und Fernsehtanten dazu veranlaßte, von seiner ›Männlichkeit‹ zu sprechen. Während der Wahlkampagne hatte mehr als ein Reporter die weit verbreitete Ansicht wiedergegeben, dass Talcott Bailey an ›Ausstrahlung‹ dem Präsidentschaftskandidaten einiges voraushabe. Bailey war über 1,80 Meter groß. Der Präsident war um einen halben Kopf kleiner. Bailey hatte langes, dichtes aschblondes Haar, das an den Schläfen den ersten Schimmer von Silber zeigte. Der Präsident neigte zur Glatze. Der Vize war ein geschulter Wirtschaftsfachmann. Er hatte in dieser Eigenschaft schon in früheren Regierungen amtiert und eine Reihe Aufsehen erregender Programme für Steuerreformen und Wohlfahrtseinrichtungen entwickelt, die zwar von den Konservativen in der Partei abgelehnt wurden, jedoch in Universitätskreisen und in den Wahlbezirken der großen Städte Anklang fanden. Und es waren diese beim Parteikonvent stark vertretenen Wahlbezirke, die die Nominierung Talcott Quincy Baileys durchgesetzt hatten.
Aber nicht Talcs wirtschaftlicher Radikalismus bereitete dem Präsidenten die größten Sorgen, sondern des Vizepräsidenten innerste Überzeugung, dass die verantwortungslose Abenteuerlust und die Macht der Militärs an den meisten Schwierigkeiten der letzten zwanzig Jahre die Schuld trügen. ›Die Taube‹ nannte man Talc im Volk, und dank der Unverblümtheit, mit der er seine pazifistischen Ideen verbreitete, verdiente er sich diesen Spitznamen fast täglich aufs neue.
Die Auseinandersetzung, die sie noch zu so später Stunde hier im Ovalen Salon verweilen ließ, war von Bailey herbeigeführt worden: von seiner persönlich und mit aller Schärfe vorgetragenen Ablehnung einer von der Regierung geforderten Bewilligung zusätzlicher Mittel aus dem Verteidigungsbudget. Diese sollten die amerikanische Beteiligung an der auf Grund des Zypernabkommens geschaffenen Friedensstreitmacht auf Sinai für weitere drei Jahre sichern.
Der Präsident brach das lastende Schweigen. Er sprach mit Nachdruck. Es war schon fast Mitternacht, er war müde und zunehmend ungehalten über den Widerstand des Vizepräsidenten in allen militärischen Fragen.
»Ich habe Ihre Vorschläge geprüft, Talc, und kann ihnen nicht zustimmen. Die Friedensstreitmacht ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Außenpolitik. Wir können ganz einfach nicht mehr zulassen, dass diese Leute wie Kinder mit Streichhölzern in einem Pulvermagazin spielen – und es gibt nur eines, was sie daran hindern kann: mit modernen Waffen ausgerüstete Soldaten der Großmächte. Man hat schon alles ausprobiert, Talc. Nicht einmal der auf Vernunft begründete Pragmatismus des alten Henry Kissinger hat uns etwas gebracht. Nein, nein, es bedarf eines langfristigen Dazwischentretens, und die Vereinigten Staaten müssen auch weiterhin die sich daraus ergebende Verantwortung tragen. Eine Herabsetzung der Mannschaftsstärke unseres
Weitere Kostenlose Bücher