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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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Seidel ist ein brillanter Mann – und ein anständiger Mensch. Es war ein großes persönliches Opfer für ihn, mit Bill Tate in die Zone zu gehen.«
    »Er kommt aus dem Mittelwesten. Es gibt dort wahrscheinlich Wahlkreise, bei denen diese Berufung gut ankommen würde«, sagte Talcott Bailey.
    »Dass er in Cambridge oder New Haven nicht der aussichtsreichste Kandidat wäre, ist mir klar. Gerade das könnte ihm in gewissen Kreisen zum Vorteil gereichen.«
    Brennende Röte stieg dem Vizepräsidenten ins Gesicht. »Wollen Sie mir jetzt vielleicht wieder Ihre Rede über die Vorteile der Mäßigungspolitik halten, Mr. President?«
    »Nein, Talc. Heute nicht. Ich bin zu müde, und Sie kennen sie ja. Zwischen Ihnen und mir bestehen grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Führungsaufgaben in einer demokratischen Gesellschaft. Sie vertreten die Meinung, dass das Volk uns wählt, damit wir das für die Menschen tun, was wir nach bestem Wissen und Gewissen für richtig halten. Ich glaube, dass sie uns wählen, damit wir, soweit das möglich ist, das tun, was sie getan sehen wollen. Im Grunde Ihres Herzens sind Sie ein Oligarch, Talc. Ich gebe zu, dass Sie in Anbetracht Ihrer Herkunft, Ihrer Erziehung und Ihrer Erfahrungen schon viel dazugelernt haben. Aber Sie sind nicht wirklich davon überzeugt, dass ein freies Volk die Verantwortung tragen kann, sich selbst zu regieren.«
    »Das ist ja sehr interessant, Mr. President.«
    »Seien Sie nicht gleich beleidigt. Ich bewundere Ihre Qualitäten. Sie sind ein ehrlicher, integrer Mann. Aber letzten Endes sind Sie in Ihrem Innersten davon überzeugt, dass die Menschen kein Recht haben, ihr eigenes Leben zu bestimmen.«
    »Das sind bittere Worte, Mr. President.«
    »So waren sie nicht gemeint. Seit vielen Jahren ist die Herrschaft des Volkes zu seinem eigenen Besten die Basis der Politik unseres Landes«, sagte der Präsident, deprimiert von der unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit dieses Mannes. »Nun, es ist spät. Machen wir Schluß.«
    Der Vizepräsident war aufgestanden, zögerte aber noch.
    »Gibt's noch was, Talc?«
    »Was ist mit der Presse?«
    »Was soll da sein?«
    »Taggart ist noch immer in Bethesda.« Der Pressesekretär des Vizepräsidenten war vor einer Woche zu einer Gallensteinoperation ins Marinekrankenhaus in Bethesda eingeliefert worden. Allerdings behaupteten böse Zungen im Weißen Haus, Taggart hätte einem Referat über Klima und Gelände des Sinaigebiets beigewohnt und daraufhin schleunigst einen Gallenanfall bekommen.
    »Nehmen Sie Jape Reisman. Er kennt die Zone, und ich«, sein Lächeln wurde zum breiten Grinsen, »ich werde ihn in Palm Springs nicht brauchen.«
    »Gut, Mr. President.«
    »Gute Nacht, Talc. Gute Reise.«
    »Das wünsche ich Ihnen auch, Mr. President.«
    Als Bailey beim Verlassen des Raums die Tür öffnete, fiel der Blick des Präsidenten auf den Sicherheitsoffizier, der, die Mappe mit dem Kriegskode auf den Knien, im Gang saß. Er sah diesen Mann oder einen seiner Kameraden täglich mehrere Male, aber sein Anblick bewegte ihn immer wieder von neuem. So wie er saß auch ein Sicherheitsoffizier im Kreml: stumme Mahner, die einen nie vergessen ließen, an welch dünnem Faden der Frieden hing und wie sehr seine Erhaltung des vernünftigen Handelns praktisch denkender Männer bedurfte.
    Der Präsident dachte: Um des Landes, um der ganzen Welt willen hoffe ich, dass Bailey solche Last nie wird tragen müssen.

3
    Auf der anderen Seite des mit grünem Filz überzogenen Tisches zündete sich der sowjetische Luftwaffenkommandeur Oberst Wassilij Jermolow umständlich eine Zigarette an. Oberst Nowotny, der Politoffizier, starrte ausdruckslos durch die staubigen Fenster auf die Lagergebäude. Kapitän Nikolaj Sacharow, der Marinekommandeur, lauschte offensichtlich der Dolmetscherin.
    Diese, eine dickliche Ukrainerin mit den grünen Schulterklappen eines Hauptmanns, las mit lauter Stimme aus den Berichten der Einsatzpatrouillen. Weitschweifige Wiederholungen und schlechte Photos sollten die angeblichen Verletzungen der entmilitarisierten Zone dokumentarisch belegen. Wo immer der Kommandoausschuß zusammentrat, ob hier, im Hauptquartier des sowjetischen Kontingents in El Arisch, ob im amerikanischen Hauptquartier in Es Schu'uts, die Verlesung dieser Protokolle war Teil eines feststehenden Rituals. Sie wurden verlesen, abgeleugnet und schließlich ins Hauptquartier des Beobachterteams der Vereinten Nationen in der Zentralen Zone gesandt;

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