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36 - Das Vermächtnis des Inka

36 - Das Vermächtnis des Inka

Titel: 36 - Das Vermächtnis des Inka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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vorauszusehen war, daß die Feuer bald erlöschen würden. Nur einem von den beiden, zwischen denen die Gefangenen lagen, gab er neue Nahrung, um sein Wächteramt treu ausführen zu können.
    Es war fast eine Stunde vergangen, seit die Roten sich niedergelegt hatten. Da wurde Anton das Schweigen doch zu schwer, und er flüsterte seinem Gefährten, welcher während dieser langen Zeit nicht die geringste Bewegung gemacht hatte, zu: „Ich glaube, sie schlafen jetzt fest, und wir dürfen nicht länger warten. Bedenke, welche Sorgen man drüben bei uns haben wird, wenn man unsere Abwesenheit bemerkt!“
    „Man wird nur im ersten Augenblick bange um uns sein“, antwortete der Inka, „dann aber wird mein Anciano die anderen beruhigen. Er kennt mich und weiß, was er in diesem Fall zu denken hat. Dennoch bin ich mit deinen Worten einverstanden, wir müssen handeln.“
    „Hast du dir überlegt, was wir tun werden?“
    „Das bedarf keiner Überlegung, sondern es ist ganz selbstverständlich. Ich locke den Wächter hierher.“
    „Wie ist das möglich?“
    „Es ist möglich.“
    „Womit, wodurch?“
    „Das wirst du gleich hören. Paß genau auf, ob einer der Schläfer sich bewegt, wenn ich mich vernehmen lasse! Wenn das, was ich vorhabe, vollständig gelingen soll, darf keiner von ihnen munter sein.“
    Er legte seine beiden Hände an den Mund und ließ ein leises, müdes Krächzen hören, wie man es wohl von einem Papagei vernimmt, welcher im Schlaf gestört worden ist.
    Keiner der Indianer regte sich; aber der Posten blieb stehen, um zu horchen, woher der Ruf kam.
    „Sieh, er lauscht“, flüsterte der Inka. „Wahrscheinlich kommt er her. Hast du etwas gesehen, daß ein Schläfer wach wurde?“
    „Nein.“
    „Ich auch nicht. Kriech rasch noch um zwei Bäume zurück, und lege dich platt auf die Erde, sonst sieht er dich, wenn er kommt!“
    Anton gehorchte dieser Aufforderung, und der Inka ließ das Krächzen zum zweitenmal hören. Der Posten trat näher; beim drittenmal kam er unter die Bäume, und als es sich dann wiederholte, bog er sich zusammen und kam leise und höchst vorsichtig herbeigeschlichen, die Augen mit Spannung auf den Punkt gerichtet, von welchem aus die Töne erschollen waren. Dieser unbefangene Mensch glaubte also wirklich, es mit einem Papagei zu tun zu haben.
    Der Inka nahm seinen schweren Streitkolben von der linken Seite und krächzte noch einmal, und als der Posten fast den Stamm erreicht hatte, hinter welchem er sich befand, sprang er blitzschnell hervor und schlug auf ihn ein – ein einziger Hieb, und der Indianer brach zusammen, um sich nicht mehr zu bewegen.
    „Mein Gott, du hast ihn erschlagen!“ flüsterte Anton, indem er rasch herbeikam.
    „Wahrscheinlich ist er tot; dennoch ist es möglich, daß er noch lebt. Bleib hier bei ihm. Wenn er erwacht, ehe ich zurückkehre, stößt du ihm dein Messer in das Herz. Du hast doch den Mut, dies zu tun?“
    „Im Kampf ja – aber einem Wehrlosen?“
    „Wir befinden uns im Kampf, und wenn er erwacht, ist er nicht wehrlos. Seine Stimme ist dann eine Waffe, wie es für uns gar keine gefährlichere geben kann. Ich verlange unbedingt, daß du mir gehorchst!“
    Der sonst so schweigsame Inka war während ihres abenteuerlichen Ganges ungewöhnlich mitteilsam gewesen, jedenfalls um seinen jungen Gefährten zu belehren. Jetzt zeigte er sich von einer noch anderen Seite. Er trat als Herr und Gebieter auf, und obgleich er nur leise sprach, geschah dies doch in einer Weise, welche keine Widerrede duldete.
    Jetzt nahm er eilends die beiden Ponchos, welche der Posten getragen hatte, und hüllte sich genau in derselben Weise hinein. Da schritt er langsam und würdevoll unter den Bäumen hinaus und ging dort ebenso wie vorher der Wächter auf und ab. Wer es nicht wußte, was geschehen war, mußte ihn unbedingt für diesen halten.
    Anton blieb mit gezogenem Messer bei dem gefallenen Indianer sitzen und beobachtete bald diesen und bald seinen jungen mutigen Freund, dessen jetziges Gebaren er freilich nicht sofort begreifen konnte.
    Als Haukaropora eine Zeitlang den Posten nachgeahmt hatte, ging er mit leisen Schritten von einem Feuer zum anderen, nicht um sie zu schüren, sondern um die Schläfer zu beobachten. Es war keiner von ihnen wach; dann begab er sich zu den Gefangenen und setzte sich bei ihnen nieder. Sie waren noch wach, denn die Lage, in der sie sich befanden, scheuchte den Schlaf von ihren Augen.
    Sie hielten ihn natürlich für den Indianer,

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