36 - Das Vermächtnis des Inka
dies möglich ist?“
Der Inka wartete eine kleine Weile, ließ den Blick nachdenklich, aber scharf über die Szene gleiten und antwortete dann: „Ich halte es für möglich und bin bereit, den Versuch zu machen. Was sagst du dazu?“
„Einverstanden!“ Er hätte vor Freude fast laut gesprochen und fügte nun desto leiser hinzu: „Aber wie wollen wir das anfangen, da wir nur zu zweien sind? Wir haben nicht einmal unsere Gewehre mit.“
„Die würden uns schaden, anstatt uns zu nützen. Du hast gehört, wie oft der Vater Jaguar gesagt hat, daß in den meisten Fällen die Klugheit der Gewalt vorzuziehen ist. Nach diesem Rat werden wir handeln.“
„Ja, handeln werden wir; ich bin bereit dazu. Aber in welcher Weise, das weiß ich noch immer nicht.“
„Warte nur! Erst müssen diese Aripones eingeschlafen sein; eher läßt sich nichts tun. Wir werden dann erfahren, ob die Wächter vorsichtig genug sind und ob man die Feuer verlöschen läßt oder nicht.“
Jetzt kam der Häuptling über den Quell herüber, um persönlich nach den Gefangenen zu sehen. Er warf ihnen drohende und verächtliche Worte zu und stieß sie dabei mit den Füßen. Sie wollten diesen Mißhandlungen ausweichen und veränderten dabei ihre bisherige Lage. Dabei konnte man das Gesicht des einen deutlich erkennen. Er war wirklich kein Indianer, sondern ein Weißer. Dann bäumte sich ein zweiter halb empor, um einem nach ihm gerichteten Fußtritt zu entgehen. Er wendete während dieser Bewegung sein Gesicht nur für einen Augenblick zur Seite, doch war das für das scharfe Auge des Inka genug; er hatte ihn erkannt und flüsterte Anton zu: „Das war der Häuptling der Cambas, welchen die Weißen El Cráneo duro, den ‚Harten Schädel‘, nennen. Hast du einmal von ihm gehört?“
„Nein.“
„Man hat ihm diesen Namen gegeben, weil er einmal acht oder zehn Kolbenhiebe auf den Kopf erhielt und doch nicht an denselben starb. Als die Feinde, welche ihn für tot hielten, sich entfernt hatten, stand er auf, rieb sich den Kopf ein wenig und ging ihnen dann heimlich nach, um sich zu rächen. Sie waren Aripones und sind von seiner Hand getötet worden.“
„So ist er ein Bekannter von dir?“
„Sogar ein Freund. Wir waren bei ihm, und er hat uns oft besucht. Welch ein Glück, daß ich da drüben in unserem Lager das Feuer sah und den Rauch gerochen habe! Ich werde das Leben wagen, um ihn zu befreien.“
„Ich das meinige auch!“ raunte ihm Anton begeistert zu. „Sage nur, wie wir es anzufangen haben. Ich werde alles tun, was du für richtig hältst.“
„Für jetzt hast du nichts zu tun, als still zu sein und dich so hinter deinem Baum zu halten, daß kein Lichtschein auf deinen Körper fällt.“
Die Aripones legten sich in Kreisen so um die Feuer, daß sie denselben ihre Füße zukehrten. Sie hüllten sich in ihre Ponchos, von denen viele zwei Stück besaßen. Der Häuptling war über den Quell zurückgekehrt und legte sich da drüben in derselben Weise nieder. Es hatten sich alle gelagert, die beiden Wächter ausgenommen, von denen der eine hinaus zu den Pferden ging, während der andere langsam auf und ab zu schreiten begann. Er hatte sich gegen den scharf wehenden Wind in seine zwei Decken gehüllt. Die eine trug er wie einen Weiberrock um die Hüften, und in die andere hatte er den Kopf in der Weise gehüllt, daß sie vorn nur die Augen frei ließ und ihm hinten lang über den Rücken herunterhing.
Die Umstände, welche von den beiden mutigen und unternehmenden Jünglingen insbesondere in Betracht gezogen werden mußten, waren folgende: Sie lagen natürlich nicht ganz unter den vordersten Bäumen. Um auf den Lagerplatz zu kommen, mußten sie zehn bis fünfzehn Schritt gehen. Von den äußersten Bäumen bis zu der Stelle, an welcher die Gefangenen lagen, war es ebensoweit. Der Wächter schritt an den Bäumen, also fast genau zwischen diesen beiden Punkten, hin und her, trat im Verlauf der ersten halben Stunde einigemal zu den Gefesselten, um nachzusehen, ob dieselben eingeschlafen seien. Das Lager war durch den Wald nicht vollständig vor dem Wind geschützt; er blies zuweilen so heftig in die Feuer, daß die Funken aufstoben und auf die Decken der Schläfer fielen. Um dieselben vor dem Versengtwerden oder gar Anbrennen zu bewahren, ging der Posten von Feuer zu Feuer und schob die brennenden Äste und Zweige so zusammen, daß die Flammen bedeutend kleiner und niedriger brannten. Er legte kein neues Material dazu, so daß
Weitere Kostenlose Bücher