36 - Das Vermächtnis des Inka
Quelle lagern werden, von welcher der Vater Jaguar sprach. Wenn wir dieselbe erreichen, brauchen wir nur ihrem Wasser zu folgen, um an das Ziel zu gelangen.“
„Sie wird sich vielleicht unter den Bäumen befinden!“
„Möglich; aber die Menschen, deren Feuer ich bemerkt habe, lagern jedenfalls nicht unter Bäumen, da das zu unbequem sein würde, sondern auf einer freien Stelle. Verlaß dich auf mich. Wir verirren uns nicht.“
Sie setzten ihren Weg fort, schneller als bisher. Ihr Lager hatte sich in der Mitte des nördlichen Seeufers befunden; sie bogen bald um den oberen, westlichen Teil des Sees. Dann hörte die Lichtung auf, und der Wald begann wieder. Er bildete hier einen dunklen Streifen, welcher einige hundert Schritt breit sein mochte. Sie ließen ihn linker Hand liegen und eilten an seinem äußeren Rand nun in östlicher Richtung hin, denn sie befanden sich nun am südlichen Ufer. Sie waren da noch gar nicht weit gekommen, so blieb der junge Inka mit vorwärts gebeugtem Oberkörper stehen. Er hatte die Haltung eines angestrengt Lauschenden eingenommen. Es hatte sich ein ziemlich scharfer Wind erhoben, welcher ihnen gerade entgegenwehte.
„Hörst du etwas?“ fragte Anton.
„Ja.“
„Was?“
„Ich glaube, es ist eine Glocke gewesen.“
„Eine Glocke? Es gibt doch hier keine Stadt mit Kirchenglocken.“
„Diese Art meinte ich nicht. Komm noch eine kurze Strecke weiter, so wirst du es auch hören.“
Sie schritten wieder vorwärts, diesmal aber langsamer als vorher. Bald war ein vom Winde herübergewehter metallener Ton zu hören.
„Horch!“ sagte Anton. „Jetzt habe ich es gehört. Es klang beinahe wie die Glocke einer Madrina.“
Madrina ist ein dem spanischen Amerika eigentümlicher Ausdruck. Man versteht unter demselben die Stute, welche bei Herden oder auf Reisen die anderen Tiere führt. Sie trägt eine Glocke am Hals, deren Ton die übrigen stets folgen.
„Ja, es kann nichts anderes sein als eine Madrina“, stimmte der junge Inka bei.
„Sollten sich Arrieros (Maultiertreiber) hier im Gran Chaco befinden?“
„Nein, gewiß nicht. Durch diese Gegend ziehen keine Handelskarawanen. Es werden Indianer sein.“
„Von welchem Stamm?“
„Ich weiß es nicht, denke aber, es zu erfahren.“
„Dann sind diese Menschen sehr unvorsichtig. Die einzelnen Völker leben, wie wir gehört haben, jetzt in Feindschaft miteinander. Da hängt man doch den Tieren keine Glocken an, welche zu Verrätern werden müssen!“
„Die Leute, welche sich hier befinden, werden sich so sicher fühlen, daß sie nicht glauben, solche Vorsicht anwenden zu müssen. Auch müssen sie ihre Tiere weiden lassen und dürfen sie also nicht anbinden. Hätten sie keine Madrina dabei, so würden die Pferde nach allen Richtungen auseinanderlaufen.“
„Wieso? Die unsrigen bleiben doch auch beisammen.“
„Das ist etwas ganz anderes. Der Indianer ist kein Pferdezüchter; er raubt und stiehlt die Tiere aus allen Gegenden zusammen. Sie kennen sich also nicht, und da sie nicht in Herden gehalten werden, so haben sie keine Anhänglichkeit zueinander. Treffen dann auf einem Kriegszug viele Reiter zusammen, so müssen sie ihren Pferden eine Madrina geben, denn jedes Roß gehorcht der Glocke unbedingt. Das ist von großem Vorteil für uns, denn der Ton, welchen wir gehört haben, wird uns als Wegweiser dienen.“
Es war so, wie er sagte, denn je weiter sie kamen, desto deutlicher war der Ton der Halsschelle zu hören. Bald mußten sie ihre Schritte noch mehr hemmen, da der Klang nun aus großer Nähe kam. Zugleich waren links die Stämme des Waldes zu sehen, da hinter demselben mehrere Feuer brannten, in deren Schein sich die Bäume deutlich hervorhoben.
„Sieh, wie leicht wir das Lager gefunden haben“, flüsterte Haukaropora Anton zu. „Vor uns liegt der sich um den Wald ziehende Grasstreifen; auf ihm weiden die Pferde. Links von uns sticht er in den Wald hinein und bildet da eine offene Stelle, auf welcher sich die Quelle befindet. Wir haben also die Pferde gerade vor uns und die Reiter links hinter den Bäumen.“
„So müssen wir in dieser letzteren Richtung weiter?“
„Ja, aber nicht sogleich. Wir haben alle Ursache, vorsichtig zu sein, und so will ich erst sehen, ob sich Wächter bei den Pferden befinden. Warte hier, bis ich zurückkehre.“
Er schlich sich davon, und Anton stand allein, wohl über eine Viertelstunde lang, dennoch wurde ihm um den Inka nicht bange, denn er fühlte ein solches
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