36 - Das Vermächtnis des Inka
welcher sie bewachen sollte, denn er hatte den Poncho so um den Kopf und das Gesicht geschlagen, daß nur seine Augen zu sehen waren. Er kannte auch die roten Begleiter des Häuptlings, den Weißen aber, welcher ein noch ziemlich junger Mann war, hatte er noch nie gesehen. Aus Rücksicht auf diesen letzteren mußte er spanisch sprechen. Dies tat er, indem er nach einer Weile den Poncho so weit lüftete, daß man sein Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme hören konnte, und sagte in halblautem Ton: „El Cráneo duro ist betrübt; bald aber wird er fröhlich sein. Wenn er mir jetzt antwortet, mag er leise sprechen!“
Der Häuptling hatte halb von ihm abgewendet gelegen; jetzt wendete er ihm das Gesicht voll zu und antwortete, wie ihm geboten war, mit leiser Stimme: „Was sprichst du zu mir? Willst du mich verhöhnen, indem du freundlich zu uns tust?“
„Es ist nicht Hohn, sondern Aufrichtigkeit. Ihr seid Männer und werdet euch also beherrschen können. Laßt keinen Ton hören, der mich und euch verraten könnte! Ich bin da, um euch zu retten.“
„Du, der Aripone?“
„Ich bin kein Aripone, sondern ich heiße Haukaropora und bin der Sohn deines Freundes Anciano.“
„Du wärst Haukaro – – –“
Der Name blieb ihm vor Verwunderung auf der Zunge hängen.
„Ja, ich bin es“, fuhr der Jüngling fort. „Überzeuge dich!“
Er öffnete jetzt den Poncho so, daß sein Gesicht vollständig zu sehen war. Der Weiße beobachtete die Szene, ohne sich zu regen, die Cambas erkannten den Inka, der sein Gesicht schnell wieder verdeckte. Sie hätten gern vor Freude aufgejubelt, blieben aber still; doch sagte ein nicht zu beherrschendes Zucken und Bewegen ihrer gefesselten Körper deutlich genug, wie freudig überrascht sie waren.
„Habt ihr mich erkannt?“ fragte er sie.
„Ja, ja“, stieß der Häuptling hervor, „du bist der Sohn unseres Freundes und selbst unser Freund. Es geschehen große Wunder. Wie kommst du unter die Aripones? Ich habe dich bis jetzt noch gar nicht bemerkt.“
„Ich gehöre nicht zu ihnen und war nicht bei ihnen; ich bin erst seit kurzer Zeit hier im Wald, um diese unsere Feinde zu beobachten. Ich lagerte mit mehr als zwanzig weißen Männern drüben jenseits des Sees und bemerkte eure Feuer. Da schlich ich mich, ohne daß jemand es bemerkte, mit einem jungen Freund herüber, um zu erfahren, von wem diese Feuer angezündet seien. Ich sah die Aripones, und ich erkannte dich. Da nahm ich mir vor, euch zu befreien.“
„Das ist kühn, außerordentlich kühn! Wo ist denn unser Wächter?“
„Er liegt erschlagen dort unter den Bäumen. Ich habe mich in seine Decken gehüllt, um für ihn gehalten zu werden.“
„Welche Klugheit, welche List! Hast du dein Messer mit?“
„Ja.“
„So schneide uns los; schnell, schnell!“
„Wer zu viel eilt, kommt zu spät an. Ehe ich euch befreie, müßt ihr wissen, was ihr zu tun habt. Ihr habt Zeit. Und wenn jetzt in diesem Augenblick alle Aripones erwachten, es würde ihnen doch nicht gelingen, einen von euch zurückzuhalten.“
„Du sprichst nur von weißen Männern. Ist Anciano auch dabei?“
„Ja, du weißt, daß ich mich nie von ihm trenne.“
„Und wer sind die Weißen?“
„Der Vater Jaguar führt sie an.“
„Der Vater Jaguar? O, wenn der hier in der Nähe ist, so befinden wir uns nicht mehr in Gefahr.“
„Auch wenn er sich nicht hier befände, wärt ihr jetzt außer Gefahr. Ich zerschneide jetzt eure Banden; aber bleibet trotzdem genau so liegen, wie ihr jetzt liegt!“
Er zog sein Messer hervor und befreite sie in der Weise von ihren Fesseln, daß ein in diesem Augenblick erwachender Aripone doch nicht bemerkt hätte, was vorgenommen wurde. Dabei sprach er weiter: „Die Feuer verlöschen, und nur dieses eine brennt noch. Wir sehen unsere Feinde nicht mehr genau; sie aber können uns beobachten. Darum müssen wir vorsichtig sein. Ich stehe jetzt auf und gehe wieder an den Bäumen hin und her; auch werde ich nach den Schläfern sehen. Finde ich, daß keiner von ihnen wach ist, so werde ich leise husten, und ihr kommt, einer hinter dem anderen, nach der Stelle gekrochen, an welcher ich mich befinde. Unter den Bäumen dort wartet mein junger Freund Antonio. Sind wir bei diesem angelangt, so gehen wir, um die Pferde alle zu holen.“
„Ist nicht ein Wächter dort?“ fragte der Häuptling.
„Ja, einer.“
„Den fürchten wir nicht. Ich habe zwar keine Waffe, aber ich erwürge ihn.“
„Du wirst ihn mir
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