36 - Das Vermächtnis des Inka
daß sie hinüber sind. Aber wenn dies der Fall ist, so brauchen wir uns nicht zu sorgen. Mein Hauka ist außerordentlich vorsichtig. Ich kann ihm vollständig vertrauen.“
„Das weiß ich freilich auch. Er ist erfahrener und vorsichtiger als mancher erwachsene Mann; heute aber hat er Anton mit, für dessen Wohlergehen ich zu haften habe, und –“
Er hielt inne. Sie hatten während dieses Gedankenaustausches den Lagerplatz wieder erreicht, und soeben ließ sich unweit von demselben ein heftiges Pferdegetrappel vernehmen. Dann sah man zwei Gestalten, welche, aus dem Finstern tretend, sich dem Feuer mit raschen Schritten näherten. Es waren die beiden Vermißten.
„Sie suchen uns? Da sind wir“, rief Anton mit lachendem Gesicht dem Vater Jaguar entgegen, während der Inka still an die Seite seines Anciano trat, als ob es ihm gar nicht einfalle, sich für die Hauptperson des letzten Ereignisses zu halten.
„Ja, da seid ihr! Gott sei Dank, das sehe ich! Aber wo seid ihr denn gewesen?“
„Drüben bei den Aripones.“
„Bei den Ari – – –? Es sind also welche da drüben?“
„Ja.“
„Und da habt ihr es gewagt, ohne meine Erlaubnis – – –“
„Sechs Gefangene zu befreien und eine ganze Herde von Pferden zu kapern“, fiel eine Stimme ein.
Der Vater Jaguar drehte sich um und erblickte den Sprecher, welcher jetzt auch hinzugetreten war. Er trat einen Schritt zurück und rief aus, indem er die Stirn leicht in Falten zog: „Sie, Leutnant Verano? Wie kommen Sie an die Zwillingsquelle?“
„Wie ich überall hinkam, wo ich gewesen bin, zu Fuß oder im Sattel, Señor.“
„Sie wissen, daß ich auf meine Frage eine andere Antwort erwartete. Ich will also jetzt lieber eine zweite Frage tun: Wohin werden Sie von hier aus gehen?“
„Wieder hinüber zu den Aripones, um sie zu züchtigen. Natürlich begleiten Sie mich mit Ihren Leuten. Es darf keiner von diesen Hunden am Leben bleiben!“
„Sie finden meine Begleitung so sehr natürlich? Ich nicht.“
„Es ist ja selbstverständlich, daß Sie mir beistehen müssen.“
„Selbstverständlich? Müssen? Ich sage Ihnen, daß ich niemals muß. Aber wen haben wir denn noch da?“
Sein Gesicht heiterte sich auf. Er sah den ‚Harten Schädel‘ kommen, welcher schnell auf ihn zutrat, ihm die Hand reichte und in ehrfurchtsvollem Ton, aber schlechtem Spanisch antwortete: „Ich bin es, Señor. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen. Sie wissen das, ohne daß ich es Ihnen sage. Nun Sie hier sind, brauchen wir uns nicht zu fürchten.“
„Vor wem?“
„Vor den Aripones, welche sich vorbereiten, von allen Seiten auf uns einzudringen.“
„Ich habe etwas Ähnliches gehört und denke, daß es nicht so schlimm werden wird, wie es den Anschein hat. Du warst heute mit Leutnant Verano zusammen?“
„Ja, Señor, ich und noch vier von meinen Leuten, welche sich jetzt draußen am Wald bei den Pferden befinden, die wir mitgebracht haben. Wir sechs fielen heute früh den Aripones in die Hände, welche uns nach der Zwillingsquelle schleppten, um uns morgen im See zu ersäufen. Haukaropora und der andere Knabe haben uns errettet.“
„Diese beiden? Wie ist – – –“
Er hielt mitten in der Frage inne, denn er sah, daß der dunkle Himmel im Süden eine Stelle zeigte, welche eine ganz eigenartige schwefelgelbe Farbe angenommen hatte. Dann fuhr er hastig fort: „Wie viele Aripones befinden sich da drüben?“
„Sieben- oder achtmal zehn“, antwortete der Häuptling.
„Und gerade so viel Pferde haben wir mitgebracht, denn wir nahmen ihnen alle weg, sie liefen der Madrina nach.“
„Das ist ein Abenteuer, welches ich mir sofort ausführlich erzählen lassen möchte; aber wir haben nicht die Zeit dazu. Häuptling, siehst du im Süden den gelben Strich, und weißt du, was er bedeutet?“
Der Gefragte antwortete: „Ich habe ihn schon längst gesehen, Señor. Es naht ein Hurrikan, welcher die Wälder zerbricht und das Feuer in großen Ballen vom Himmel wirft. Auch die Pferde fühlen es; sie werden unruhig und wollen nicht stehen.“
„Ja, wir befinden uns in Gefahr. Bleiben wir, so können wir von den Bäumen zerschmettert werden; gehen wir fort, so rollt uns der Orkan wie Sandkörner über den Campo. Ich kenne die Gegend nicht. In zwei Stunden wird der Sturm losbrechen. Wir müssen uns also schnell entscheiden.“
„Ich kenne die Gegend, Señor. Wir werden reiten, und wenn wir uns beeilen, werden wir
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