36 - Das Vermächtnis des Inka
Flucht wäre da das schlimmste gewesen. Anton blieb also stehen, spannte den Revolver und zog mit der linken Hand sein Messer. Was er in diesem Augenblick fühlte, das war eigentlich nicht Furcht, sondern eine Empfindung, für die es keine Bezeichnung gibt.
„Hauka“, rief Anton, „der Jaguar!“
Eben kam der Inka um die andere Seite der Pferdegruppe. In demselben Augenblick tat der Jaguar den Sprung auf Anton zu. Dieser jagte ihm eine Kugel entgegen, wurde aber von dem Tier niedergerissen. Er fühlte die schwere Last der Bestie auf sich liegen und roch den stinkenden Hauch derselben. Er war sicher, nun von den Krallen zerfleischt, von den Zähnen zermalmt zu werden; da aber hörte er über sich einen Krach, wie wenn man mit einer Axt auf den Hackstock schlägt; der Jaguar richtete sich halb auf und rollte dann, ohne einen Laut auszustoßen oder nur zu röcheln, zur Seite. Anton fühlte sich von der Last frei; es war ihm aber, als ob er es noch gar nicht glauben dürfe; darum blieb er noch liegen. Da beugte sich der Inka über ihn und fragte in liebevollem Ton: „Bist du verletzt, Antonio? Hat dich seine Kralle oder sein Rachen getroffen?“
„Ich glaube nicht“, antwortete der Gefragte. „Es tut mir nichts weh. Da liegt das Tier. Was ist mit ihm?“
„Es ist tot; ich habe es mit meinem Humantschuay erschlagen. Eben als du mich gerufen, sprang er auf dich ein. Du gabst ihm eine Kugel, und ich sprang hinter ihm her, um ihm mit dem Kolben den Schädel einzuschlagen. Steh auf, daß wir sehen, ob du Schaden erlitten hast!“
Anton erhob sich. Es war ihm nichts geschehen. Selbst sein Anzug war vollständig unverletzt. Ob der Schuß das Tier so konsterniert hatte, daß es seine scharfen Waffen nicht sofort gebraucht hatte?
Der Gerettete drückte seinen Retter innig an sich und sagte: „Ohne dich lebte ich jetzt nicht mehr; ich wäre zerfleischt. Wie kann ich dir danken?“
„Dadurch, daß du mich immer so liebst, wie du mir jetzt gewogen bist. Das ist mir lieber als alles. Doch laß uns nun zu den Unsrigen zurückkehren.“
„Und was geschieht mit dem Tiger?“
„Den lassen wir einstweilen liegen; die Cambas mögen ihn holen.“
Sie kamen aber noch nicht von der Stelle fort, eben jetzt kam der Vater Jaguar. Er hatte den Ruf Antons und den Revolverschuß gehört und war dem Bedrängten zugeeilt. Als er den Fall übersah, bückte er sich zu dem Raubtier nieder, untersuchte dasselbe und sagte dann: „Ein Weibchen, ein gewiß fünfjähriges Weibchen. So einen großen Jaguar habe ich selten gesehen. Hanka, du bist wirklich ein junger Held, vor dem ich alle Achtung habe. Und welch ein gewaltiger Hieb! Du hast ihm den Schädel eingeschlagen. Hier nimm meine Hand! Ich muß dir die deinige drücken und schütteln, denn ich bin überzeugt, daß du einst ein tüchtiger Mann sein wirst.“
Dieser Händedruck war dem jungen Inka sehr viel wert. Eine Anerkennung von diesem Mann galt ihm höher als das Lob vieler anderen. Die drei kehrten nach dem Dorf zurück. Als die in demselben Befindlichen das Abenteuer erfuhren, brachen sie alle, Männer, Weiber und Kinder, auf, um den Jaguar im Triumphzug heimzuholen. Er wurde sofort aus der Haut geschält. Das Fell gehörte natürlich dem Inka, da dieser das Tier erlegt hatte; er nahm es aber nicht an, sondern schenkte es Anton als Andenken an die Gefahr, aus welcher er von dem Freund gerettet worden war. Haukaropora hatte schon bisher die Teilnahme der ganzen Gesellschaft genossen; von heute an bemerkte man noch viel deutlicher, daß sie ihn wirklich achteten und einem erwachsenen Mann für gleich wert hielten.
Die Bewohner des Dorfes räumten mehrere Häuser, damit ihre Gäste einmal unter Dach schlafen konnten. Die Folge davon, daß der Häuptling Boten ausgesandt hatte, war noch vor morgens zu bemerken, denn es stellten sich schon während der Nacht viele Krieger aus den näher liegenden Dörfern ein. Im Laufe des Vormittags kamen noch viel mehr und dann auch mit Sack und Pack diejenigen Familien, welche vor den Aripones hatten weichen müssen, weil ihre Wohnungen auf der Route derselben lagen.
Es wurden diejenigen Krieger ausgesucht, welche die meiste Intelligenz besaßen; diese erhielten Schießgewehre. Gewehre bekamen natürlich auch alle Häuptlinge, welche mitgekommen waren, und deren gab es nicht wenige, weil jedes Dorf einen Häuptling hat. Sie werden Kaziken genannt. Diese Leute zeigten sich sehr anstellig, so daß der Vater Jaguar am Abend des zweiten Tages
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