36 - Das Vermächtnis des Inka
dadurch, daß die ersteren sich mit den Hinterhufen, die letzteren aber mit den Hörner verteidigen. Es mußte ein Raubtier in der Nähe sein, und zwar ein größeres. Da er kein Gewehr bei sich hatte, so rief er mit lauter Stimme in das Dorf zurück: „Cuidado, Señores! Bringt die Gewehre; es ist ein Jaguar da!“
Er stieß diesen Ruf nicht aus Furcht aus. Daß er sich auch ohne Gewehr nicht fürchtete, bewies er dadurch, daß er ruhig weiterging. Nur hatte er das Dolchmesser gezogen, um im geeigneten Augenblick die Klinge bereit zu haben. Seine laute, weithin schallende Stimme war nicht nur in das Dorf zurück-, sondern auch über den ganzen großen Weideplatz gedrungen und da an die Ohren von zwei Personen, denen das sonderbare Verhalten der Tiere noch gar nicht aufgefallen war.
Diese beiden Personen waren Anton Engelhardt und der Inka. Die Freundschaft der beiden Jünglinge war während der letzten Tage womöglich noch inniger geworden, als sie vorher gewesen war. Sie hielten, wie auch schon früher, stets zueinander. Da mußte Anton von seiner Heimat erzählen, nicht von Peru, sondern von Deutschland, woher seine Eltern stammten, von anderen Ländern, von deren Bewohnern und ihren Verhältnissen. Er hatte einen sehr guten Unterricht genossen und viel gelernt; darum konnte er dem Freund sehr wohl die gewünschte Auskunft geben. Sie hatten von den Religionen der verschiedenen Völker gesprochen, von ihren Regierungsformen, ihren Herrschern und deren Machtbefugnissen, von den Streitkräften und den Verheerungen, welche die gegenwärtigen Waffen anzurichten imstande sind. Je mehr der junge Inka gehört hatte, desto einsilbiger und nachdenklicher war er geworden. Er begann mehr und mehr einzusehen, daß der Traum, den er bisher geträumt hatte, eben nur ein Traum sei und ein solcher bleiben werde. Es fiel ihm nicht ein, seinem alten Anciano etwas davon zu sagen. Er wollte den treuen Beschützer nicht kränken.
Heute, als die Beratung begann, hatten sie geglaubt, zu jung zu sein, um an derselben teilzunehmen. Es hätte ihnen niemand verwehrt, bei den Alten zu sitzen, um zuzuhören und auch wohl ein Wort zu sagen, dennoch hielten sie es in ihrer berechtigten Bescheidenheit für geraten, fernzubleiben, und so hatten sie, sich Hand in Hand führend, einen Spaziergang unternommen. Sie kamen nach der Weide hinaus und gingen in nicht allzu großer Ferne vom Wald parallel mit dem Rand desselben hin. Es war ihnen nicht eingefallen, ein Gewehr mitzunehmen. Anton hatte das Messer und den Revolver mit; der Inka trug auch ein Messer im Gürtel, und dazu hing ihm sein Streitkolben, von dem er sich nie zu trennen pflegte, an der linken Seite nieder. Der erstere erzählte wie gewöhnlich, der letztere hörte still zu und warf zuweilen eine wißbegierige Frage dazwischen. Da vernahmen sie von drüben herüber eine donnernde Stimme: „Cuidado, Señores! Bringt die Gewehre; es ist ein Jaguar da!“
„Das war der Vater Jaguar“, sagte Anton, indem er stehenblieb und unwillkürlich seinen Revolver zog. „Sollte eine Onze, ein Tiger, in das Dorf gedrungen sein?“
„Nein“, antwortete Haukaropora. „Die Stimme kam nicht aus dem Dorf, sondern von der anderen Seite der Weide her. Wir haben uns zu weit entfernt. Laß uns zurückkehren!“
Sie entfernten sich vom Wald, um sich dem Dorf zu nähern, und kamen dabei an einer Rindergruppe vorüber. Als der Inka die Haltung dieser Tiere sah, sagte er: „Wir müssen uns beeilen. Diese Ochsen stehen zur Verteidigung bereit, und da sie die Hörner tief senken, so ist der Jaguar nicht nur da, sondern er muß sich hier in der Nähe befinden.“
Sie eilten mit raschen Schritten vorwärts, dorthin, wo sechs oder sieben Pferde, die Kruppen nach auswärts gerichtet, mit zusammengesteckten Köpfen einen Verteidigungskreis bildeten. Die Tiere schnaubten und standen mit den Hinterhufen keinen Augenblick still. Haukaropora ging links, Anton aber rechts vorüber, weil er da glaubte, näher zu kommen. Eben war er um die Pferdegruppe gebogen, als er seitwärts von derselben und vor sich etwas Dunkles im Gras liegen sah. Was es war, konnte er nicht erkennen, da die Sichel des Mondes nicht hell genug schien. Er hielt den Gegenstand oder das Tier für ein junges, an der Erde liegendes Kalb oder Füllen und wollte an demselben vorüber. Da erhob es sich und nun sah er allerdings, wen er vor sich hatte: es war der Jaguar, welcher zwar aufgesprungen war, sich aber zum Sprung sofort wieder niederduckte.
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