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40 - Im fernen Westen

40 - Im fernen Westen

Titel: 40 - Im fernen Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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war Schornsteinfeger in Leipzig?“
    „Jawohl.“
    „Er hieß Franz Winter?“
    „Allerdings.“
    „Hatte er nicht eine Stiefschwester, mit welcher er beklagenswerter Weise in so wenig gutem Einvernehmen stand, daß beide sich fast gar nicht um einander kümmerten?“
    „So ist es, mein Vater hatte in mancher Beziehung etwas eigenartige Ansichten und konnte zuweilen sogar ein wenig hart sein. Der Großvater hatte sich zum zweiten Mal vermählt, und zwar ganz und gar gegen den Wunsch seines einzigen Sohnes, der eine persönliche Abneigung gegen die Stiefmutter hegte. Diese besaß aus erster Ehe eine Tochter, welche seit frühester Jugend Aufnahme und Erziehung in einem adligen Haus gefunden hatte und in die bescheidene Häuslichkeit des Essenkehrers so wenig paßte, daß ihr die Besuche dort bald verleidet waren, zumal mein Vater ihr nichts weniger als brüderliche Gefühle entgegenbrachte. Als sie mit der Familie, in welcher sie lebte, den Aufenthalt gewechselt hatte, hörten wir nur höchst selten etwas von ihr, da ihre Mutter keinen ihrer Briefe zur Kenntnis brachte. Später starb letztere, und ihr Begräbnis hat die Tochter zum letzten Mal nach Leipzig geführt. Seit jener Zeit haben uns alle Nachrichten von ihr gefehlt, und mein Vater hat auch nie Veranlassung gefunden, Erkundigungen einzuziehen.“
    „So befinden Sie sich also jetzt vollständig im unklaren über sie und ihre Verhältnisse?“
    „Vollständig.“
    „Und doch haben Sie schon seit einiger Zeit ihre persönliche Bekanntschaft gemacht.“
    „Gnädige Frau!“
    „Wollen Sie nicht lieber ‚Tante‘ sagen, Sie haben ein Recht dazu.“
    Fast erschrocken sprang Winter von seinem Sitz empor; aber ehe er noch Zeit fand, ein Wort des Erstaunens auszurufen, hatte Wanda schon seine Hände ergriffen und, ihm tief und innig in die Augen blickend, freudig gerufen:
    „Vetter, sei mir tausendmal willkommen! Zwar befinde ich mich noch nicht ganz im klaren über den Zusammenhang dieser Sache; aber ich weiß doch, daß ich nun nicht mehr allein und schutzlos dastehe.“
    Und ihm die Arme um den Nacken legend, küßte sie ihn auf die Wange und eilte dann zur Mutter.
    „Mama, ich danke dir für diese Freude; es ist die größte meines Lebens!“
    „Hast du wirklich so allein und schutzlos dagestanden, Wanda?“ fragte die Baronin mit leisem Vorwurf.
    „Verzeih mir! Schutzlos bin ich oft gewesen, und so sehr sich meine ganze Seele sträubt, mich zu dem ‚schwachen Geschlecht‘ zählen zu lassen, so habe ich doch schon oft empfunden, daß wir Frauen auf männlichen Beistand angewiesen sind. Und wenn ich mich einsam gefühlt habe, trotzdem ich eine Mutter besitze, so liegt die Schuld an mir allein. Ich bin nicht immer gut und gehorsam gewesen.“
    Es war, als hätte seit dem Wort ‚Vetter‘ ihr Wesen eine vollständige Umwandlung erfahren. Die Hand Winters immer noch in der ihrigen haltend, stand sie mit demütig gebeugtem Haupt vor der Stiefmutter, als erwarte sie aus dem Mund derselben ein strenges, nachsichtsloses Urteil. Aber die Antwort war mild und freundlich, als die alte Dame mit zitternder Stimme und tiefer Rührung in den Zügen erwiderte:
    „Ich kenne dich und konnte dir also nie zürnen. Du hast mich lieb gehabt zu aller Zeit, wenn das kleine Trotzköpfchen auch zuweilen gegen das Gefühl des Herzens ein wenig rebelliert hat. Aber wie es scheint, hast du wohl einen Vetter gefunden, ich aber noch nicht einen Neffen.“
    Wirklich hatte Winter noch kein Wort der Begrüßung zu ihr gesprochen und wurde erst durch diese Erinnerung aus seinem Schweigen aufgeweckt.
    „Ihr beiden Leute laßt mich ja gar nicht zu Wort kommen, und dazu bin ich von dem so unerwarteten Glück, eine mütterliche Freundin zu finden, so betäubt, daß es wirklich kein Wunder ist, wenn ich vor lauter Freude vergessen habe, höflich zu sein.“
    Mit Herzlichkeit wurde das Versäumte nachgeholt, und es zeigte sich bald, daß die Baronin trotz der scheinbaren Härte ihres Charakters ein tiefes und reichbegabtes Gemüt besaß, welches sich jetzt in Freundlichkeiten ergoß, die um so inniger waren, je weniger sie bisher Gelegenheit zu denselben gehabt hatte.
    „Du wirst fragen, warum ich in der langen Zeit kein Lebenszeichen gegeben habe?“
    „Nein; ich weiß die Gründe, welche dich uns entfremdeten, zu würdigen. Die Schuld lag nicht an dir, und ich bin dir von ganzem Herzen dankbar für die Verzeihung, welche du heute übst.“
    „Ich trat einige Jahre nach dem Tod

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