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40 - Im fernen Westen

40 - Im fernen Westen

Titel: 40 - Im fernen Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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und beschloß deshalb, ihn heute abend noch aufzusuchen. Seit der Anwesenheit des Professors schien sich die Entwicklung zu beschleunigen, und es durfte also keine Zeit verloren werden.

Über den Wolken
    Es war noch früh am Morgen, wenigstens nach der Zeitrechnung derjenigen Leute, welche nach englischem Modus leben und den Tag beginnen, wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht. Zu dieser Klasse von Menschenkindern gehörte der Polizeirat nicht. Von Jugend auf an ernstes, aufmerksames Schaffen und anstrengende Tätigkeit gewöhnt, war es ihm zur Gewohnheit geworden, mit dem Tagesgrauen zu erwachen und diesem Erwachen die Arbeit augenblicklich folgen zu lassen.
    So treffen wir ihn auch heute schon beizeiten wach und über den Zeitungen sitzend, welche gestern spät noch angekommen sind. Die Aufmerksamkeit für diese Art von Lektüre ist Pflicht eines jeden Polizeibeamten und war ihm zu seinem Wohlbefinden unumgänglich notwendig geworden, obgleich er längst schon seine Pension genoß.
    Da hörte er rasche Schritte auf der Treppe, und kaum hatte er sich horchend aufgerichtet, so öffnete sich auch schon die Tür, und Hagen trat ein.
    „Guten Morgen, Onkel! Verzeih mir die allzu frühe Störung; aber ich bringe wirklich eine Nachricht, welche deine ganze Teilnahme in Anspruch nehmen wird.“
    „Nun? Du bist mir, wie du weißt, jederzeit willkommen.“
    „Es ist verschiedenes. Zunächst wirst du erstaunen, daß die Baronin von Chlowicki die Tante des hiesigen Essenkehrers Winter ist.“
    „Ich bin gewohnt, über nichts zu erstaunen. Der Polizist darf diesen demütigenden Gefühlsaffekt nicht kennen. Freilich muß ich gestehen, daß deine Neuigkeit sehr unwahrscheinlich klingt.“
    „Und doch ist es so. Wenn du die Art und Weise eines guten Polizisten so genau kennst, so wirst du ihm auch zuweilen eine kleine Neugierde gestatten, welche anderen nicht erlaubt ist.“
    „Gewiß. Bist du vielleicht neugierig gewesen?“
    „Meine Absichten auf Wanda von Chlowicki zwingen mich dazu. Ich habe gestern abend die Runde um ihre Wohnung gemacht und dabei das Gespräch zweier Personen belauscht, deren eine die Kammerzofe der Baronesse war, während ich nach Erkundigungen, welche ich heute sofort eingezogen habe, in der anderen den Buchbinder Thomas vermute. Beide haben ein Verhältnis miteinander und gaben sich gestern ein Rendezvous, dessen Zeuge ich glücklicherweise war. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich die Neuigkeit, welche ich dir mitteilte. Das Kammerkätzchen hat nach Art und Weise dieser wißbegierigen dienstbaren Geister die betreffende Unterredung belauscht und wäre natürlich am Herzdrücken gestorben, wenn sie dem Allerliebsten keine Mitteilung davon gemacht hätte. Was sagst du dazu?“
    „Es gibt keine Unmöglichkeit unter der Sonne. Nur sind hierbei zwei Fälle anzunehmen. Entweder nämlich ist Winter adlig, was ich nicht vermute, trotzdem ich ihn sehr achte, oder die Baronin ist eine Bürgerliche, und es bestätigt sich also die Wahrheit dessen, was ich dir vor kurzer Zeit zu Gehör brachte.“
    „Das letztere ist der Fall. Doch ist diese Sache, wenigstens für den Augenblick, von keinem bedeutenden Interesse für mich; vielmehr wird dieses ganz und gar in Anspruch genommen durch einen Brief, welchen der hiesige Postsekretär mir vorhin übergab.“
    „Was für Wichtigkeiten enthält er?“
    „Ich weiß es selbst noch nicht und muß ihn erst öffnen.“
    „Von wem ist er?“
    „Von einem meiner Untergebenen, dem Bruder des vorhin erwähnten Schornsteinfegers.“
    „Ah! Von dem Mann, welchen wir kürzlich als Gehilfen des Professors antrafen? Die Sache beginnt interessant zu werden. Was hat er dir zu schreiben?“
    „Mir nichts. Sein Brief ist vielmehr an einen unserer routiniertesten Staatsanwälte gerichtet. Die Sache ist nämlich so. Winter ist ein kluger Kopf, vielleicht der klügste, intelligenteste, welcher uns zur Verfügung steht; nur macht er infolge seiner akademischen Laufbahn Ansprüche auf eine gesellschaftliche Gleichberechtigung, welche unsere Anciennitätsverhältnisse vollständig über den Haufen wirft. Er hat Urlaub wegen seiner angeblich bedrohten Gesundheit genommen; aber bei einem Mann von seinem Diensteifer ist eine Reise nur zum Zweck der Erholung nicht gut anzunehmen. Er ist noch jung, und wenn seine Kräfte auch etwas in Anspruch genommen worden sind, so ist das Übelbefinden doch nicht von der Art, daß er infolge einer längeren Dispensation mehrere Wochen lang jede

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