41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
könnte, aber er wurde nicht fündig. Er durchforstete bis zur letzten Zeile sämtliche Vernehmungsprotokolle und Akten, doch auch hier gab es keinerlei Andeutungen zu Adressen, Namen oder Aufenthaltsorten von Louises Pfleglingen. Dafür fand er aber in seinem privaten Notizbuch eine Passage, in der Louise bei seinem Besuch in Anchieu darauf hinwies, dass sie „weder von den Eltern, noch von den Geschwistern“ jemals etwas mehr gehört hatte. Auf sein Angebot, in Marseille nach ihnen zu suchen, hatte sie ablehnend mit den Worten „Verschonen Sie mich, vielen Dank! Ich bin dankbar, dass mich nie jemand von ihnen aufgesucht hat. Mein jetziges Leben habe ich mir hart genug erarbeiten müssen. Da kann ich auf geldgierige Geschwister und Erbschleicher gut verzichten.“ reagiert.
Warum war ihm dieser wichtige Punkt noch nie ins Auge gesprungen? Wie hatte er dies übersehen können? Wenn es keine Verwandten in Frankfurt gab, wo hielt sich Louise dann auf? Was machte sie alle drei Monate vierzehn Tage lang in Frankfurt? Wo musste er sie suchen?
Alette konnte er heute kein zweites Mal befragen, er würde nicht einmal an ihrem hübschen Wachhund im Vorzimmer vorbeikommen.
Marta würde wie gewöhnlich von nichts wissen, ihre himmelblauen Augen erstaunt aufreißen und an ihrem Daumen kauen.
Louise selbst stand noch unter der Fuchtel von Pricard und war somit unangreifbar.
Blieb nur noch Hendrik. Marcel tat es zwar aufrichtig leid, den alten Mann mit neuerlichen Fragen belasten zu müssen, aber fiel es ihm keine andere Möglichkeit ein, so unauffällig wie möglich an Informationen zu kommen.
Er ordnete seine Papiere sorgfältig, versperrte sie im Aktenschrank und war gerade dabei, das Büro zu verlassen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch schnarrte.
In der Leitung rauschte und knarzte es und er vernahm am anderen Ende die zaghafte Stimme eines schüchternen Jungen.
„Spreche ich mit dem Ermittlungsleiter des Falles Prousseau?“
„Wer will das wissen?“, Marcel war nicht nach Scherzen halbwüchsiger Jugendlicher zumute.
„Monsieur, ich bin es, Mathis.“ Die Stimme erstarb.
„Mathis? Ich kenne keinen Mathis!“, schnauzte Marcel ins Telefon.
„Mathis aus Marseille. Ich bin der Polizeischüler, mit dem Sie im Hafenviertel waren.“
„Ah, ja, natürlich, Mathis! Mein Junge, was gibt es Neues?“ Marcel freute sich, von dem Jungen zu hören. Er war ihm irgendwie ans Herz gewachsen.
„Erinnern Sie sich an die stinkende Alte in der Hafenkneipe?“
„Ja, dunkel. Was ist mit ihr?“
„Ich war noch einmal dort. Heute. Hab mit ihr gesprochen.“
„Alleine?“
Marcel konnte den Jungen schlucken hören. „Ja. Alleine.“
„Bist du verrückt, mein Sohn? Weißt du überhaupt, in welche Gefahr du dich damit begeben hast?“
„Aber ich habe was herausgefunden“, unterbrach ihn der Polizeischüler tapfer, „nur weiß ich nicht, ob es für Ihre Untersuchung wichtig ist. Ich möchte Sie auch nicht belästigen, aber …“
„Tust du nicht, mein Junge, tust du nicht. Schieß los!“
Und aus dem Jungen sprudelten die Worte hastig hervor, seine Stimme wurde von Satz zu Satz immer fester und sicherer.
Marcel ließ ihn reden und sondierte die Informationen, die zwar durchaus interessant, für den aktuellen Fall aber nicht relevant waren. Louise als Kindesmörderin anzuprangern, wäre zwar das berühmte Sahnehäubchen in diesem spektakulären Fall, doch wäre es äußerst kompliziert, ihr dieses Schwerverbrechen nach über vierzig Jahren nachzuweisen. Marcel lobte den jungen Polizeischüler für seine Courage und die vorbildliche Befragung, legte den Hörer auf, nahm ihn sogleich wieder ab und wählte Hendriks Nummer. Niemand meldete sich, obwohl Marcel lange auf Antwort wartete, weil er Hendrik im Garten wähnte.
Er würde zu Hendrik fahren, die Rue Loubert lag auf dem Weg dorthin. Er würde einen kurzen Stopp beim Bistro einlegen und Marta nach Hendrik fragen.
Wenn jemand über intime Einzelheiten aus Louises früherem Leben Bescheid wusste, dann der alte Hendrik.
Marcel sah auf die Uhr. Es war genau fünf.
Marta
Die runden Tischchen in der Sonne am Trottoir vor dem Bistro waren nur spärlich besetzt. Die schwüle Hitze trieb die Gäste eher ins Innere der Bars, in denen Klimaanlagen und surrende Ventilatoren für angenehme Kühle sorgten.
Hendrik wählte dennoch einen Tisch unter der schattigen Balustrade, denn er genoss die wärmenden Sonnenstrahlen in vollen Zügen. Er hatte sich heute
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