41 - Unter heisser Sonne
mir ist, als ob er erst heute sei. Ich komme mir vor wie in der glücklichen Knabenzeit, wenn etwas Langersehntes endlich einzutreffen verspricht. Ist das nicht sonderbar? Ist das nicht lächerlich?“
„Sonderbar wohl kaum, lächerlich aber keinesfalls. Unsere Seele steht mit ganz anderen Welten in Verbindung als unser Körper. Und diese Verbindung ist eine so innige, daß ein vernünftiger Mensch über das, was wir ‚innere Stimmen‘ nennen, wohl niemals lächeln wird. Hat dir der Traum den Bruder deutlich gezeigt? Oder war es nur so eine Gestalt, die du für ihn genommen hast?“
„Er war es und zwar so bestimmt und deutlich, daß ich mich sogar im Traum darüber wunderte und freute, daß er mir noch genauso ähnlich sieht wie früher. Wir waren einander nämlich so außerordentlich ähnlich, daß wir oft miteinander verwechselt wurden. Das machte uns Spaß, und darum trug er sich auch in Beziehung auf Bart und Kleidung ganz genau wie ich. Um so verschiedener waren wir innerlich. Er immer weich, nachgiebig und zum Frieden geneigt, ich aber unzart, rauh und stets bereit, als Gebieter aufzutreten. Das trennte uns dann schließlich. Heute aber – – –“
Er hielt inne, trat an das Fenster, schaute hinaus und fügte dann hinzu: „Da geht der Weg zum Bab en Nebi Daud und da zum Bab el Amud. Für mich ist es gleich, welchen von diesen Wegen ich gehe. Sie führen mich beide doch nur um die Stadt herum und nach dem Ölberg, wo ich warte, wann und wie mir die Verzeihung kommen werde. Heute liegt eine Spannung in mir, die mich nicht ruhen läßt. Ich gehe!“
Er entfernte sich, und ich gestehe offen, daß er einen Teil der Spannung, in der er sich befand, bei uns zurückließ. Wenn ich mit der vorliegenden Erzählung künstlerische Zwecke verfolgte, so hätte ich sie ganz anders aufgebaut und würde dem Schluß, der sich uns naht, ein eigenes Kapitel zu geben haben. Da mir aber der natürliche Verlauf der Dinge wenigstens ebenso interessant wie seine eventuelle, literarische Bearbeitung erscheint, so folge ich dem guten Beispiel unseres braven Buben, indem ich die Tatsachen schlicht und ungeschminkt berichte und, solange Schamah sich bei uns befindet, darauf verzichte, sie grün oder blau, gelb oder rot anzumalen.
Wir verwandten den Vormittag dazu, die ‚Gräber der Könige‘ und einige andere naheliegende Orte zu besuchen. Am Nachmittag wollten wir nach Aïn Karim, einem meiner Lieblingsplätze, den man für den Geburtsort Johannes des Täufers hält. Wir kamen aber nicht dazu, diesen Ausflug zu unternehmen, denn eben als wir zu Mittag speisen wollten, klopfte es zum drittenmal bei uns an, und wer erschien? Schamah mit ihrer Mutter! Wir freuten uns herzlich über diesen uns menschlich so willkommenen Besuch, und es verstand sich ganz von selbst, daß sie beide mit uns aßen. Die Mutter war eine liebe, sanfte, edle und nur innerlich stolze Frau von ernster Herzensbildung. Sie sprach trotz ihrer Bescheidenheit mit großer Genugtuung davon, daß sie nicht aus Syrien, sondern aus dem Kaukasus stamme und, soweit die Tradition zurückreiche, immer christlich gewesen sei. Ihr Vater war, wegen seines Glaubens unterdrückt, als armer Offizier in El Kerak gestorben. Auch ihr Mann sei arm gewesen, sogar sehr arm, aber mit allen Tugenden geschmückt, die nötig sind, sich die Achtung und die Liebe der Menschen zu erwerben. Er habe Achmed Bustani geheißen und sei an einer Krankheit des Herzens gestorben, an einer Sehnsucht, die ohne Unterlaß an ihm genagt habe, bis ihn der Tod von ihr erlöste.
Achmed Bustani! Man kann sich wohl denken, welchen Eindruck dieser Name auf uns machte. Der Bruder unseres Freundes, also doch! Mir hätte die Witwe diese Mitteilungen wohl nicht so bald gemacht, aber die beiden Frauen waren einander schon gestern nicht nur äußerlich, sondern noch mehr auch innerlich begegnet und fühlten sich nun heute in der Weise zueinander hingezogen, daß sich die Vertraulichkeit ganz von selbst einfand. Natürlich nicht sofort, sondern es währte Stunden, bis wir so nach und nach erfuhren, was ich in wenigen, kurzen Worten berichte. Während sie sprach, schaute uns die zurückgehaltene Herzensqual aus ihren feuchten, tiefen Augen an, und so wäre es von uns im höchsten Grad hart, ja grausam gewesen, wenn wir diese Qual durch Fragen vergrößert hätten, nur um eine gewöhnliche Neugierde zu stillen. Achmed Bustani war, um es mit einem bekannten Wort auszudrücken, ganz einfach am Heimweh gestorben.
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