41 - Unter heisser Sonne
erst noch einmal hinein in das Grab, um es vollends und ganz zu werden!“
„Noch einmal hinein?“ wiederholte er. „Das verstehe ich wohl. Es hat noch einiges in mir zu sterben. Bis dahin aber bin ich einstweilen der Bruder deines Vaters, mein liebes, liebes Herzenskind, und du kannst mich immerhin schon ganz so lieb haben, als ob ich schon dein Vater wäre!“
„Wenn du das willst, so tue ich es!“ lächelte sie. „Nun aber trag mich zur Mutter!“
„Sag mir erst noch etwas!“
„Was?“
„Weißt du den Tag, an dem dein Vater gestorben ist?“
„Oh, den wissen wir alle, die Mutter auch. Sie wiederholt ihn so oft, daß man ihn gar nie vergessen kann. Es war der fünfzehnte Tag des Monates Adar, an dem er starb.“
Da sprang er auf. Sein Gesicht nahm einen gar nicht zu definierenden Ausdruck an. „Hört ihr es – hört ihr es?“ fragte er uns. „Der fünfzehnte Adar! Derselbe Tag, an dem mir träumte, daß er gestorben sei und mir Schamah, seine Verzeihung senden werde! Allah, Allah! Wie wunderbar ist alles, was geschieht! Ich ehre dich! Ich preise dich! Ich bete an!“
„Zur Mutter, zur Mutter!“ bat das Kind, über dessen Verständnis das, was es jetzt sah und hörte, zu weit hinausging.
„Ja, ich trage dich zur Mutter“, sagte er, indem er Schamah vom Boden aufhob und in seine Arme nahm. „Wo finde ich sie?“
„Bei Abd en Nom“, antwortete Thar, indem er sich anschickte mitzugehen, von mir aber festgehalten wurde.
Sein Vater ging mit vor Erregung fast schwankenden Schritten nach dem angegebenen Haus, in dessen Inneren er verschwand. Der Bub aber sagte: „Wenn ich nicht mitgehen darf, um zu hören, was gesprochen wird, so muß ich allein sein, um über das, was sich ereignet, nachzudenken. Vater hat recht: Es geschehen noch Wunder. Das allergrößte Wunder des heutigen Tages aber bin ich! Denn ich habe hinter seinem Rücken die Verschwörung mit dem Hammahr angezettelt und die Verzeihung grad hierher an das Grab des Lazarus geleitet, ohne daß ich dabei gescheiter gewesen bin als alle anderen, dich, Effendi, und unsere Gattin mit ausgeschlossen. Wartet hier auf mich! Sobald ich den Verstand beisammen habe, werde ich mich hören lassen.“
Er entfernte sich. Wir nahmen auf dem Gemäuer Platz und teilten uns unsere Gedanken mit – leise wie in einer Kirche. Wir waren ganz allein. Der Hüter hatte sich entfernt. Das Grab stand offen. Welche Gedanken schauten aus dieser geöffneten Tür zu uns herüber! – Der Tag begann sich zu neigen. Ein reiner, heiliger Odem wehte von der Höhe des Ölbergs zu uns her. Ich hörte etwas in mir. Oder war es außen? Stand jemand hinter uns? Ein Gewaltiger, von keinem Menschen jemals zu Erreichender, der über uns hinweg zum Grab hinüber rief, aber doch auch mich damit meinte: „Lazarus, komm heraus!“ Es gibt ja nicht bloß in körperlicher Beziehung Wundertaten, durch welche Tote wieder lebend werden.
Da klang leise und wie aus hoch über uns erhabenen Lüften das zweistimmige Lied von Bethanien, wo der Heiland zu den Geschwistern kommt, zum Grab hernieder. Die Knaben hatten auf Thars Anweisung das Gemäuer, welches auf meinem ersten Bild zu sehen ist, erstiegen und wiederholten, was sie am Teich Siloah gesungen hatten, das Lied von Christus, der Blinde sehend macht und Tote wieder lebend. Es kommt mir wie eine Profanation vor, die Arten dieser Blindheit und dieses Todes durch Worte anzudeuten. Solche Dinge muß man fühlen; ich aber habe nicht zu belehren, sondern nur zu erzählen.
Als das Lied wie ein aus Christi Zeit herübergetragenes Gebet verklungen war, kehrte Thar zurück. Er hatte seine Gespielen nun verabschiedet und nach Hause geschickt. Und gleich darauf trat sein Vater wieder aus dem Haus. Seine Schwägerin und Schamah begleiteten ihn. Das Bibelwort ‚Und ihre Angesichter glänzten‘, war auf sie anzuwenden.
„Welch eine Stunde, welch eine heilige Stunde“, sagte er. „Und dazu dieses Lied! Wer hat das angeordnet?“
„Ich“, antwortete der Bub, indem er mit beiden Händen auf sich zeigte.
„Bist du es wirklich gewesen? Mir war es, als ob es ein Gruß von deiner Mutter sei –“
„Und auch meines Verstorbenen“, fiel da die Witwe ein, „der aber nicht tot, sondern lebend ist und dessen letzter Wunsch nun in Erfüllung geht.“
„Und wenn es wirklich von diesen beiden käme, nicht aber von dir, mein Sohn“, fuhr Mustafa Bustani fort, „so hast du doch schon außerdem mehr als genug getan und dir unseren
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