42 - Waldröschen 01 - Das Geheimnis des Bettlers
abgereist. Er ist über die Grenze und wird wohl nach Paris gehen. Es ist auch möglich, daß er sie zu seiner Mutter und Schwester führt. Sollte dies der Fall sein, so passe auf über ihr Glück. Es wird einst die Zeit kommen, in der sie es Dir danken werden und in welcher auch wir Rache nehmen an dem, der uns verstoßen hat.
Schreibe mir alles, was passiert, und auch ich werde Dich benachrichtigen, wenn etwas vorkommt, wodurch ein Brief nötig wird. Du bist der zukünftige König der Gitanos. Vergiß nicht, daß Dein Schutz mächtig ist über alle, die ich unter denselben gestellt habe!
Deine Mutter
Zarba, die Königin.“
Der Waldhüter hatte diesen Brief gestern empfangen. Heute las er ihn noch einmal durch und wurde dabei durch den Besuch des Knaben gestört. Er legte ihn schnell zusammen, steckte ihn in das Kuvert und verbarg dieses in einer Brieftasche, welche in einer alten Lade lag.
Dieses Portefeuille paßte nicht zu dem alten, rissigen Möbel, in welchem es aufbewahrt wurde. Es war aus dem feinsten Saffianleder gefertigt, enthielt ein goldgeschnittenes Notizbuch, in welchem alle Bemerkungen in der erwähnten Malaiensprache niedergeschrieben waren, und in den Taschen außer mehreren geheimnisvollen Schriften und Briefen auch noch einen ziemlich dicken Stoß von Banknoten, die einen Wert repräsentierten, dessen Besitz kein Mensch dem unscheinbaren Waldhüter zugetraut hätte. Nun erst, nachdem er den Brief versteckt hatte, öffnete er.
„Guten Morgen, Tombi!“ grüßte der Kleine.
„Guten Morgen“, dankte der Hüter.
Das Licht des Morgens fiel auf seine schlanke, aber kräftig gebaute Gestalt. Wer den Grafen Alfonzo de Rodriganda kannte und diesen Waldhüter erblickte, dem mußte die ganz außerordentliche Ähnlichkeit auffallen, welche zwischen diesen beiden herrschte, nur daß die Gesichtszüge des Hüters ein dunkleres Kolorit zeigten und in ihrem Schnitt an jene Physiognomien erinnerten, welche man nur bei den Zigeunern findet.
„Du stehst wohl erst auf?“ fragte der Knabe.
„Nein. Ich habe gar nicht geschlafen.“
„Was hast du getan?“
„Ich habe einem Bock aufgelauert.“
„Hast du ihn erwischt?“
„Ja.“
„Wo liegt er?“
„Hier in der Höhle.“
„Den muß ich sehen! Zeige ihn mir schnell!“ sagte Kurt ganz begeistert.
„So komm herein!“
Das Deutsch des Waldhüters klang fremdartig und gebrochen. Er hatte ein scharfes, durchdringendes Auge und einen Zug der Biederkeit, der Aufrichtigkeit im Angesicht, der ihm das Vertrauen aller erweckte, mit denen er in Verkehr kam. Er führte den Knaben in das Innere der Hütte, wo der Rehbock lag, über den sich Kurt sogleich niederbeugte, um ihn aufmerksam zu betrachten.
„Ein Kapitalbock!“
„O ja! Ich bin ihm bereits seit langer Zeit zu Gefallen gegangen.“
„Aufs Blatt getroffen und im Feuer zusammengestürzt! Du bist ein tüchtiger Kerl, Tombi!“
„Du auch, Kleiner!“ lachte der Hüter.
„Wieso?“
„Ich habe noch gestern gehört, daß du einen Fuchs geschossen hast.“
„Ja. Auch er war ein tüchtiger Kerl!“ sagte Kurt mit stolzer Miene.
„Wer war mit?“
„Der Ludewig und die beiden anderen.“
„Haben denn die nicht getroffen?“
„Nein.“
„Hm!“ brummte der Hüter mit einem scharfen Blick in das Gesicht des Jungen. „Der Ludewig schießt doch sonst sehr gut. Er fehlt niemals. Das ist kurios. Hat er denn auf den Fuchs gezielt?“
„Nein“, antwortete Kurt verlegen.
„So hat er also gar nicht geschossen?“
„Doch, o ja!“
„Ja, worauf denn?“
„Hm! Frage ihn selbst!“
„Donneritta! Ist es denn ein so großes Geheimnis?“
„Allerdings!“
„Auch vor mir?“
„Auch vor dir“, nickte Kurt.
„Höre, Junge, ich denke, wir sind gute Freunde!“
„Das denke ich auch.“
„Nun, zu einem guten Freund hat man Vertrauen!“
„Das habe ich ja zu dir. Aber der Ludewig ist mein guter Freund auch, und es gibt Sachen, die man selbst einem guten Freund nicht erzählen darf.“
„Donneritta, du redest ja wie ein Buch, Kleiner!“ lachte der Hüter. Dann fragte er mit einer schelmischen Miene, die ihm sehr gut stand:
„Ich habe gehört, daß ihr im Schloß Trauer habt.“
„Trauer? Weshalb?“
„Weil ein Weibsbild gestorben ist.“
„Ein Weibsbild? Davon weiß ich ja gar nichts!“
„Ja, ein Weibsbild. Eigentlich nicht gestorben ist sie, sondern man hat sie geradezu ermordet.“
Da trat Kurt erschrocken zurück und rief:
„Ermordet? Und ich weiß nichts
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