43 - Waldröschen 02 - Der Schatz der Mixtekas
aus dem Fenster von Emmas Schlafzimmer drang. Ah, das war die Braut, die schöne, die ihn verstoßen hatte! War vielleicht der Bräutigam bei ihr? Er mußte das wissen; die Eifersucht packte ihn. Er wußte, daß an den Palisaden mehrere lange, starke Stangen lagen. Er holte eine derselben, lehnte sie an die Mauer und kletterte daran in die Höhe. Sie war so lang, daß er neben das offene Fenster kam und einen Blick hineinwerfen konnte.
Emma hatte sich entkleidet und ein fast durchsichtiges Negligé angelegt, bereit, das weiche Lager aufzusuchen. Sie war so bezaubernd, so sinnberückend schön, daß er nicht widerstehen konnte. Er setzte den Fuß auf die Fensterbrüstung und schwang sich hinein. Sie hörte das Geräusch, drehte sich um und stieß einen Schrei des Schreckens aus.
„Was wollen Sie?“ fragte sie entsetzt, indem sie sich bemühte, ihre Blößen zu decken.
„Liebe!“ stammelte er, völlig berauscht von ihrer Schönheit.
Ihr Auge blitzte auf. In ihrem Zimmer befand sich keine Waffe, aber sie war mutig und entschlossen.
„Liebe?“ fragte sie. „Liebe nicht, aber Verachtung und Blut!“
Mit einem schnellen Griff riß sie ihm das Messer aus dem Gürtel und zückte es gegen ihn.
„Augenblicklich verlassen Sie mich wieder!“ gebot sie.
„Dich verlassen, du Herrliche? Nein, nein und tausendmal nein!“ sagte er.
Er griff zu und faßte ihr Handgelenk so, daß sie nicht stechen konnte. Sie rangen um den Besitz des Messers. Er war stärker als sie, aber die Scham und die Verzweiflung gaben ihr Kraft genug, den Griff der Waffe festzuhalten. Er hatte den anderen Arm um sie geschlungen und drückte sie an sich. Ihr Busen wogte an seiner Brust, sie fühlte seinen Atem und seine Küsse auf ihrem Nacken und ihren Wangen. Sie erkannte, daß sie unterliegen müsse, wenn sie aus Scham länger schwiege. Darum rief sie um Hilfe, ein-, zwei- dreimal.
Da nahte draußen ein schneller, leichter Schritt.
„Um Gottes willen, was rufst du?“ erklang die Stimme der Indianerin, deren Wohnung neben derjenigen Emmas lag und die also den Hilferuf gehört hatte.
Der Graf drückte Emma fester an sich und versuchte, ihr den Mund zuzuhalten, es gelang aber nicht.
„Rufe die Leute herbei, der Graf hat mich überfallen! Schnell, schnell!“
„Der Graf? Ah!“
Sie klinkte an der Tür, fand sie aber verschlossen. Eine lange Minute verging unter dem fortgesetzten heißen Ringen zwischen dem halb entblößten Mädchen und dem begierigen Wüstling. Das hörte man die leichten Füße Karjas zurückkehren; ein Schuß krachte, und die Tür flog auf. Wie der Engel der Rache stand die Indianerin vor derselben, die rauchende Büchse noch in der Hand. Sie hatte das Schloß mit der Kugel geöffnet. Auch sie war nur halb bekleidet und auf ihre Weise ebenso schön wie Emma.
„Lügner! Treuloser!“ rief sie.
Er ließ Emma los, als er aber sah, daß die Büchse nur einen Lauf hatte, lachte er und wollte das Mädchen wieder packen; da aber faßte ihn die Indianerin und schleuderte ihn mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß er zu Boden sank. Zugleich ertönten laute Stimmen. Man hatte den Schuß gehört und eilte zur Hilfe herbei.
Da sprang der Graf, der seiner Sinne kaum mächtig gewesen war und erst jetzt wieder zu sich kam, auf den Fensterstock zurück, faßte die Stange und ließ sich hinab. Einen Augenblick später hörten ihn die beiden Mädchen mit noch mehreren Pferden davon galoppieren.
„Heilige Madonna, wer schießt, was gibt es hier oben?“ erschallte die Stimme des Hazienderos, welcher mit der Dienerschaft herbeigeeilt kam.
Zu gleicher Zeit ertönte in der Ferne ein Schuß und noch einer, worauf zwei Schreie erfolgten.
„Gott, Gott, was ist das?“ fragte Arbellez, der jetzt eintrat.
„Der Graf überfiel mich, Vater.“
„Der Graf! Was wollte er?“ fragte er ganz verblüfft, besann sich aber und fügte hinzu: „Hattest du denn nicht zugeschlossen?“
„Er kam durch das Fenster.“
„Durch das Fenster? Wie ein Dieb? O mein Gott! Und wer schoß denn?“
„Ich!“ sagte die Indianerin mit bleichen Lippen. „Ich hätte ihn erschossen, wenn ich zwei Läufe gehabt hätte. Ich holte die Büsche aus dem Waffenschrank.“
„Ah! Und wer schoß da unten?“
„Ich weiß es nicht.“
„Zieht euch an, Kinder, und kommt in den Saal. Das muß besprochen werden.“
Nach kurzer Zeit waren sämtliche Bewohner des Hauses versammelt; auch ‚Bärenherz‘ trat ein. Er hatte zwei noch blutende Skalpe am Gürtel
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