45 - Waldröschen 04 - Verschollen
ich weiß, daß unter dem Dach des Hadschi ein Schlauch voll Wasser hängt. Wollen wir es wagen, Bernardo?“
„Warum nicht? Wer will uns bemerken?“
„Gut! Wir heben den Stein vollends fort und kriechen am Boden hin, damit wir ganz sicher sind, daß uns niemand bemerkt.“
„Erst will ich mein Messer holen. Man weiß nicht, was passieren kann.“
Er kehrte nach unten zurück und kam bald wieder, das Messer zwischen den Zähnen.
Nun stemmten sie sich abermals aus aller Kraft gegen den Stein und brachten ihn auf die Seite. Jetzt konnten sie heraus zur Erde steigen. Sie legten sich auf den Boden nieder und krochen auf Händen und Füßen vorwärts, nach dem Gebäude zu, unter dessen Dach die Dattelsäcke standen. Über ihnen hing der Schlauch, von welchem der Graf gesprochen hatte. Er trat hinzu und wollte trinken, aber der Gärtner faßte ihn beim Arm und flüsterte:
„Warum jetzt trinken, Señor?“
„Wann sonst?“
„Später. Bedenkt, daß dieser Schlauch uns notweniger ist, als diesem Hadschi. Ich mache den Vorschlag, wir nehmen ihn mit.“
„Man wird bei Tagesanbruch entdecken, daß er fehlt.“
„Was schadet das uns? Habt Ihr in Eurem Hemd eine Tasche?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Hm!“
„Warum fragst du?“
„Weil ich mir überlege, wohin wir die Datteln stecken sollen, um sie fortzubringen. Ah, da hängt ein Strick; nun ist uns geholfen.“
Er hatte, ganz absichtslos und zufälligerweise, seine Hand an den Pfosten gelegt, wo er den Strick fühlte, der an einem hölzernen Pflock hing. Er nahm ihn herab, und ohne sich auf weitläufige Gewissensfragen und ihre Beantwortung einzulassen, warf er sich einen der gefüllten Dattelsäcke auf die Schulter und sagte:
„Nehmt Ihr den Schlauch, Señor; dann können wir schmausen und trinken.“ Nach diesen Worten huschte er in größter Eile nach dem Gefängnis hinüber, und der Graf konnte nicht anders, er mußte ihm mit dem Schlauch folgen. Drüben angekommen, fragte er:
„Aber wie bringen wir die Sachen hinab?“
„Wir lassen sie an diesem Strick hinunter“, lautete die Antwort.
Dies geschah. Erst wurde der Sack und dann der Schlauch hinabgelassen; dann folgten die beiden nach. Sie fanden da unten nun freilich gerade Platz genug zum Stehen für zwei Männer, aber sie konnten nun doch ihren Hunger und Durst stillen und löschen. Dann kehrten sie wieder nach oben zurück, wo es ihnen möglich war, frische Luft zu atmen bis zur Zeit, in welcher sich die Bewohner Härrärs von ihrer Ruhe zu erheben pflegen.
Hier lagen sie vor der Mündung ihres Loches und besprachen die geplante Flucht. Dabei schien der Graf eine Sorge zu haben, denn er sagte:
„Wenn wir nur jetzt nicht eine Dummheit begangen haben, Bernardo. Wir hätten auf die Datteln und auf das Wasser verzichten sollen.“
„Warum?“ fragte der Gärtner.
„Weil uns das in eine schlimme Lage bringen und unsere ganze Flucht vereiteln kann.“
„Da möchte ich denn doch wissen, wie!“
„Wir müssen bedenken, daß man hier keine Wohnung zu verschließen und alles öffentlich stehenzulassen pflegt. Die Bewohner dieses Landes sind zwar die niederträchtigsten Räuber und Spitzbuben gegen andere, aber unter sich selbst sind sie die ehrlichsten Kerle. Man wird bei Tagesanbruch den Diebstahl bemerken und sich darüber entsetzen. Man wird Nachforschung halten, und wenn man dann entdeckt, daß wir die Täter sind, so werden alle Hoffnungen zu schanden, und wir fallen einem fürchterlichen Tod anheim.“
Der Gärtner schüttelte den Kopf und meinte:
„Wenn Ihr weiter keine Sorge habt, so brauchen wir nicht bange zu sein, denn ich wüßte nicht, wie diese Leute entdecken sollten, daß wir die Täter sind.“
„Wenn sie unsere Spur finden!“
„Bah! Es ist ja ganz unmöglich, daß wir eine Spur hinterlassen haben. Wir sind beide barfuß, und der Boden ist so hart und fest wie Stein. An uns wird man am allerwenigsten denken; wir sind ja Gefangene und können unsere Löcher gar nicht verlassen. Übrigens können wir uns einer sehr guten Tat rühmen. Wenn wir fliehen, lassen wir natürlich die Datteln zurück, und dieser Speisevorrat wird meinem unglücklichen Nachfolger zugute kommen, und ihn lange vor dem Verhungern schützen.“
So tauschten diese beiden ihre Meinungen aus, und erst, als ein entferntes Geräusch bemerken ließ, daß die Bewohner der Stadt zu erwachen begannen, brachten sie die Platte wieder in ihre richtige Lage und rutschten in das Loch zurück. Dort fragte
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