5 1/2 Wochen
Deutschland im Alltagstrott unterwegs, Sören und Pia sind durch ihre Bahnfahrt weit voraus irgendwo hinter León, aber wo stecken wohl Sabrina, Edit, Ina und Hermann. Ob ich sie nochmal treffe? Das Pilgern fühlt sich auf einmal ganz anders an. Bis vor ein paar Tagen sind wir immer wieder aufeinander getroffen und fühlten uns sehr eng verbunden. Ich vermisse sie. Andererseits bin ich nun ohne die durchaus willkommene Ablenkung meiner Pilgerfreunde, deutlich näher bei mir selbst. Ich nehme andere Menschen, die Landschaft und mich noch intensiver, eben auf eine ganz andere Art wahr. Hinzu kommt, dass der Jakobsweg - zumindest jetzt gerade - sich in der Meseta von seiner angenehmen, einfachen Seite zeigt. Der Camino präsentiert sich leicht und ohne gefährliche Stolperfallen. Nur ab und zu gilt es, kurze, steile Wege zu bewältigen. Meine Augen genießen den endlosen Horizont und das saftige Grün der Felder.
Gegen 14 Uhr erreichen wir Hornillos del Camino. Die erste Bar gehört uns. Ruddi stellt sich sofort neben meinen Rucksack und gibt mir mit seinem durchdringenden Hundeblick deutlich zu verstehen, dass ich gefälligst sofort seine Decke herausnehmen und schön ordentlich hinlegen soll, damit er es sich so richtig gemütlich machen kann. Natürlich erledige ich das prompt, diesen Service hat er sich redlich verdient.
Erst beim Ablegen meines Rucksacks werde ich an die Klamotten erinnert, die die ganze Zeit fröhlich im Wind wehten. Also erledige ich meine - zurzeit einzige - hausfrauliche Arbeit: Die Wäsche ist tatsächlich trocken. Hochkonzentriert „hänge ich sie ab“, lege sie akkurat zusammen und räume sie in die jeweiligen Beutel, die ich aus meinem Rucksack gekramt habe. Was für ein Akt, mitten in einer Bar: Rucksack auf, Beutel raus, Beutel auf, Wäsche rein, Beutel zu, anderes Zeug aus Rucksack raus, Beutel rein, anderes Zeug rein, Rucksack zu - das erinnert mich an meine allererste Nacht in St Jean Pied de Port mit den Münchner Mädels. Jetzt bin ich diejenige, die auffällt. Als ich mit hochrotem Kopf (ich hatte schließlich Waschtag) aus der gebückten Haltung wieder hochkomme, auf meinem Stuhl Platz nehme und meinen Blick schweifen lasse, stelle ich fest, dass fast alle Augen auf mich gerichtet sind. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten mir applaudiert.
Es sind die Einheimischen, die mich beobachtet haben und ihren Spaß hatten. Wohlwollend lächeln sie mir zu und einer von ihnen bringt mir sogar den bestellten Café con leche an den Tisch. In dem Moment, in dem er die Tasse vor mir abstellt, atme ich tief durch und lasse die Flügel hängen. Ich bin halt fix und fertig. Um mich zu bedanken, sehe ich ihn an. Mein Blick muss wohl ziemlich verzweifelt dumm sein, seiner hingegen ist bewundernd amüsiert, angesichts der Anstrengungen, die Pilger so zu bewältigen haben. Mir wird bewusst, wie komisch diese Situation auf die Leute wirken muss. Wir prusten ungeniert los und dann kann und will niemand mehr die Contenance wahren. Das Lokal bebt von dem lauten Gelächter. Wir unterhalten uns noch eine Weile „ganz entspannt“ mit Händen, Füßen und viel sagenden Grimassen.
Da noch fast elf Kilometer bis zum Etappenziel vor uns liegen, machen wir uns schon bald wieder auf den Weg. Hontanas ist ein kleiner Ort mit nur 65 Einwohnern. Laut meinem Reiseführer gibt es dort zwar Herbergen, Hotels und Pensionen, aber ich will nicht das Risiko eingehen, durch zu spätes Erscheinen, kein freies Bett mehr zu bekommen. Der nächste Ort ist nämlich schlappe zehn Kilometer weiter. Soweit reicht mein „Sprit“ nicht!
Die heutige Etappe ist 25 Kilometer lang. Die letzten fünf kommen mir doppelt so weit vor, wie die 20 vorherigen. Nimmt das heute wirklich noch ein Ende? Ich entdecke jedenfalls, so weit meine Augen gucken können, keine Ortschaft. Bis zum Horizont sehe ich nichts als Wiesen, Felder und Hügel. Das kann doch gar nicht sein! Ich bin doch immer schön gelaufen, Ruddi ist ebenfalls fit, also so weit ist Hontanas auf keinen Fall mehr weg. Hab ich mich etwa verlaufen? Es ist lange her, dass ich einen gelben Pfeil gesehen habe. Wegweiser braucht es in der Meseta natürlich auch nicht so viele, weil es ja immer nur geradeaus geht. Ich gehe in Gedanken nochmal den Weg aus Hornillos del Camino und sehe klar und deutlich die gelben Pfeile an den Hauswänden und auf der Straße, denen ich immer brav gefolgt bin. Also kann ich mich nicht verlaufen haben. Sollte ich mich denn so verschätzen?
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