5 1/2 Wochen
Wenn ich noch so weit laufen muss, wie mein Auge reicht, dann wird es eng heute mit meiner Energie, Kraft und Zeit.
Was nützt all die Aufregung? Nicht mehr denken, einfach Laufen und sehen was passiert. Ich beruhige mich wieder, schaffe es, die negativen Gedanken mit den Wolken ziehen zu lassen. Nach drei, vier Kilometern überhole ich ein altes spanisches Ehepaar, das um seine Felder spaziert. Ich spreche die beiden an, wie weit es wohl noch bis Hontanas sei. Sie zeigen westwärts und sprechen beruhigend auf mich ein. Ich entnehme ihrem Verhalten, dass ich wohl gleich da sein müsste. Sie gehen sogar ein Stück mit mir zusammen. Als ich wieder alleine bin, frage ich mich immer noch, wo denn dieses Hontanas sein soll. Nichts versperrt hier die Sicht in die Ferne. Bin ich denn nicht bei mir? Ich sehe keine Ortschaft, nicht einmal eine Hütte. Ich sehe nur Landschaft. Aber irgendwo muss ja auch das alte Ehepaar hergekommen sein. Irritiert setze ich einen Fuß vor den anderen, Meter für Meter. So laufe ich sicher noch einen ganzen Kilometer, ohne neue Entdeckungen zu machen. Ich drehe mich um und stelle fest, dass das freundliche Pärchen zwar weit entfernt ist, aber auch in diese Richtung geht.
Kurz vor dem Durchdrehen, liegt Hontanas plötzlich und längst nicht mehr erwartet vor mir in einer tiefen Kuhle. Dieser Ort versteckt sich also vor dem Pilger in einem Erdloch. Andächtig bleibe ich stehen und schau mir das Unglaubliche genauer an. Hontanas ist kreisförmig angelegt und hat höchstens einen Durchmesser von drei-, vierhundert Metern. So um die 20 oder 30 Häuser liegen eng beieinander und mittendrin befindet sich die Kirche. Na, die hätte ich aber doch früher entdecken müssen, oder?! Vielleicht kann die sich ja unsichtbar machen!? Ich glaub, ich spinn! Wenn Sie, liebe(r) Leser(in) irgendwann auch mal den Camino Francés gehen sollten, werden Sie sich an diese Worte erinnern.
Gleicher Tag (insgesamt 323 km gelaufen)
Hontanas (65 Einwohner), 925 m üdM, Burgos
Herberge, Matratze im Kaminzimmer, 5 Euro ohne Frühstück
Nach einigen Minuten des Staunens betrete ich den unglaublich steilen, Weg, der hinunter in die „versunkene“ Stadt führt. Ich mache ganz kurze Schritte, damit ich nicht zu viel Fahrt aufnehme. Nach zirka hundert Metern befinde ich mich auch schon auf der „Hauptstraße“. In der City, die ich nach weiteren hundert Metern erreicht habe, pulsiert das Leben. Unzählige Pilger mit ihren Rucksäcken tummeln sich hier. Auffallend viele sind mit ihren Drahteseln auf dem Weg. Sie sitzen bei einem Bier, Wein oder Kaffee vor den Bars. Manche schreiben in ihren Tagebüchern, andere stehen in großen und kleinen Gruppen zusammen und lamentieren. Wieder stellt sich mir die Frage: „Wo kommen die bloß alle her?“ Stundenlang war ich mutterseelenalleine. Die einzigen Menschen, die ich gesehen habe, waren die Bauersleute. Es wird mir immer ein Rätsel sein.
Ich höre raus, dass es in den Herbergen keine freien Betten mehr gibt. Selbst das Hotel und die Pension sollen ausgebucht sein. Sofort begebe ich mich in das kleine Hotel. Der Eingangsbereich ist gnadenlos überfüllt. Ich höre immer wieder: „Lo siento, no habitación libre“ (tut mir leid, kein Zimmer frei). Das will ich mir nicht auch noch sagen lassen. Ich stelle mich ein bisschen abseits der Warteschlange und sperre meine Ohren auf. Vielleicht gibt es hier ja jemanden, der als Einzelperson ein Doppelzimmer gebucht hat und mich mit einziehen lässt. Nach einer halben Stunde hat sich die Rezeption geleert und ich bestelle mir an der Theke - die gleichzeitig der Empfang ist - einen Café con leche. Die Bedienung ist trotz des Stresses sehr freundlich und ruhig. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich jemanden suche, der mit mir sein Zimmer teilen würde. Sie hat keine Idee, wer das sein könnte. Sie bestätigt mir, dass der komplette Ort Hontanas gnadenlos überfüllt sei. Auch ihr ist klar, dass jetzt am Abend niemand mehr in der Lage ist, weitere zehn Kilometer bis zum nächsten Ort zu laufen.
Ratlos, jedoch relaxed, setze ich mich auf einen Stuhl und öffne Ruddi’s Tasche. Er bleibt liegen, ist aber deutlich zu sehen. Sofort wird er von einer Pilgerin - so um die 50 Jahre alt - entdeckt. Sie ist richtig gut drauf, sehr temperamentvoll, heißt Ineke, kommt ursprünglich aus den Niederlanden und lebt heute in Bremen. Sie ist völlig hingerissen, von meinem kleinen Freund und liebkost ihn. Wir kommen ins Gespräch. Sie macht sich
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