5 1/2 Wochen
noch nicht einmal zehn Uhr. Ich konzentriere mich momentan einfach nur aufs Laufen und mit jedem Schritt verliere ich die miesen Gedanken. Plötzlich springt direkt neben mir ein Radfahrer ab und begrüßt mich gut gelaunt. Das ist doch tatsächlich der holländische Herbergsvater, bei dem ich mich noch nicht für seine tatkräftige Unterstützung bedanken konnte. Ich freue mich so sehr ihn zu sehen, dass ich wild entschlossen meine Arme ausbreite und er sich auch von mir „nehmen lässt“. Er hat beobachtet, dass ich aus dem Ort gehe, flugs sein Rad geholt, um mich einzuholen und sich nach meinem Befinden zu erkundigen: „Wie war Deine Nacht mit dem spanischen Pilger? War alles in Ordnung? Hast Du gut geschlafen?“ Ich erzähle ihm gerne die ganze Geschichte, inklusive meines Durchhängers und der Idee, die Reise abzubrechen. Er hört mir genau zu, während wir uns zusammen Richtung Carrión bewegen. Ich darf mir also meinen Frust und meine Zweifel ungezwungen von der Seele reden. Als Hospitalero kennt er solche Pilgerprobleme wahrscheinlich nur zu gut. Er nimmt mich ernst, hört nur zu, redet nicht, ist mir die ganze Zeit zugewandt. Er gibt mir zum Abschied eine Umarmung und die folgenden Worte mit auf den Weg: „Du musst das Leben einfach nehmen, wie es kommt.“
Am Mittag erreiche ich Carrión de los Condes und hole mir - entgegen meiner Gewohnheit - im Kloster Santa Clara einen Pilgerstempel ab. Bevor ich anfange zu überlegen, was mich in dieses Kloster getrieben haben könnte, kenne ich die Antwort schon: Anita! Sie hatte die gleiche Idee und so treffen wir uns viel schneller wieder, als wir beide gedacht haben. Wir gehen zusammen durch die Stadt.
Mitten in der City fällt mir auf, dass mein rechter Fuß unter der Sohle unangenehm schmerzt. Das tut zwar schon seit einer Woche weh, aber heute fange ich sogar an zu humpeln. Anita, als Krankenschwester besteht darauf, dass ich meinen Schuh ausziehe, damit sie sich das mal ansehen kann. Es handelt sich um eine sehr große pralle Blase. Ohne lang zu fackeln, sticht sie sie mit einer Nadel auf und klebt ein Gel gepolstertes Riesenblasenpflaster darauf. Zum Glück hatte ich keine Zeit zum Nachdenken, sonst hätte ich mich sicher dagegen gewehrt und geheult wie ein Baby. Aber nach den ersten vorsichtigen Schritten merke ich, dass das die einzig wahre Lösung war.
So, dann habe ich also jetzt nach der Hälfte des Wegs auch endlich meine wohlverdiente Pilgerfußblase. Jeder sollte eine haben... Ich kann doch nicht nach 800 gelaufenen Kilometern nach Hause kommen und noch nicht einmal sichtbar kaputte Füße vorweisen. Das geht nun wirklich nicht...!
In der nächsten Apotheke will ich Anita das Pflaster ersetzen. Das lehnt sie entschieden ab: „Ich habe noch ganz viele davon, das musst Du nicht tun. Ich finde es toll, dass Wäscheklammern und Pflaster einfach mal den Besitzer gewechselt haben und uns beide glücklich gemacht haben.“
Bevor wir die Stadt verlassen und uns auf die insgesamt 17 Kilometer lange einsame Strecke wagen, besuchen wir noch ein Café. Wir nehmen draußen auf der überdachten Terrasse Platz und erzählen uns gegenseitig einige Anekdoten unserer bisherigen Pilgererfahrungen. Anita hat übrigens auch schon in so mancher Bar von mir - „der Frau, die mit dem kleinen schwarzen Hund unterwegs ist“ - gehört und freut sich, dass wir uns nun persönlich kennen und sie Zeugin für das Wohlbefinden meines treuen Begleiters sein darf.
Wow! Ich glaube, ich bin berühmt! Zumindest hier auf dem Camino Francés!
Plötzlich und unerwartet springt meine neue Begleiterin mit leuchtenden Augen auf, kramt ihr Portemonnaie aus dem Rucksack und rennt los mit den Worten: „Ich bin gleich wieder da. Wartest Du bitte auf mich? Ich habe da was gesehen!“ Selbst wenn ich hinterher rennen wollte, könnte ich doch niemals ihren Rucksack ganz alleine lassen. Nach für mich spannenden zehn Minuten der Ungewissheit darüber, warum sie wohl so abrupt ihren gemütlichen Platz verlassen haben könnte, ist sie zurück und kaum wiederzuerkennen. Sie hat sich einen Hut mit einer breiten Krempe gekauft und sieht entzückend damit aus. Sie erklärt mir, dass eine Kopfbedeckung dafür sorgt, dass man nicht so schwitzt, wenn die Sonne den Schädel küsst. Sie wünscht sich inbrünstig, dass ich mich auch „wohlbehütet“ auf den bevorstehenden Weg mache. Grundsätzlich wollte ich schon immer mal einen Hut haben, aber ich bin davon überzeugt, dass er mir beim Pilgern
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