5 1/2 Wochen
dem Wasserstrahl stehen, bis ich das Gefühl habe, dass auch meine heutigen negativen Gedanken im Abfluss verschwunden sind.
Als ich frisch und „munter“ den gut besetzten Comedor betrete, entdecke ich sofort Anita, die schon auf mich wartet. Ihr war klar, dass ich irgendwann auftauchen würde. So viele Hotels gibt es hier ja nicht. Wir bestellen uns ein „halbes Schwein auf Toast“ und schaufeln in uns hinein, als gäbe es kein Morgen mehr. Bei einer Flasche Rotwein beruhigen wir uns gegenseitig und schon nach kurzer Zeit sind wir wieder in der Lage, einfach nur Spaß an der Freude zu haben. So mancher uns bekannte Pilger kommt an unserem Tisch vorbei und hält ein kurzes Schwätzchen mit uns. Der dritte Stuhl an unserem Tisch ist immer wieder für einige Minuten besetzt. Der „heiße Señor“ von eben spielt jetzt den Kellner und flirtet mit allen Frauen was das Zeug hält. Na dann: Viel Erfolg!
Als ich spät am Abend endlich in meinem kuscheligen Bett liege, geht es mir deutlich besser, als heute Morgen noch. Mir ist klar: Ich würde es für den Rest meines Lebens bitter bereuen, wenn ich den Jakobsweg abbreche. Nach 23 Kilometern, davon 17 ohne Bars oder Orte, bin ich nun trotz aller Anstrengungen des Tages auf eine schöne Art und Weise fix und fertig. Da ist es wieder, das Pilger-Ankomm-Gefühl, das durch nichts übertroffen werden kann. Bin jetzt insgesamt in 18 Tagen 395 Kilometer mit durchschnittlich zwölf Kilogramm Gepäck gelaufen. Das heißt: Die Hälfte des Camino Francés ist in der Hälfte meiner insgesamt geplanten Zeitspanne geschafft. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekäme! Nach der heutigen Etappe bin ich so stolz es geschafft zu haben. „Wenn Du musst, hast Du auch die Kraft dafür!“ höre ich wieder meine Mutter sagen. Jetzt geht es munter weiter, was soll mich denn aufhalten?!
Kurz vor dem Einschlafen muss ich schmunzeln: Das Universum hatte heute ja wohl frei. Ich dumme Nuss habe vergessen um Hilfe zu bitten, als ich mit negativen Gedanken in der prallen Sonne unterwegs war. Wie sagen die Kölner so schön: „Et jitt kei jrösser Leid, als wat der Minsch sich selvs ahndeit.“
Sonntag, 4. Mai 2008
Calzadilla de la Cueza (66 Einwohner), 858 m üdM, Palencia
20. Etappe bis Sahagún, 23 km
Noch vor Lédigos überschreite ich die 400-gelaufene-Kilometer- Marke. Ist das zu fassen? Bin das wirklich ich, die das - für mich - Unfassbare tut? Und das, ohne vor Antritt der Pilgerei zu trainieren!
Naja, stimmt auch nicht so ganz: Ich habe immerhin vorher ein intensives wochenlanges „Rucksack-Pack-Training“ absolviert.
Wie so oft drehe ich mich andächtig im Kreis. Ich stehe hier mitten in Nordspanien mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Fünf-Kilo-Hund zu meinen Füßen und tue seit über 2 ½ Wochen nichts anderes, als Laufen, Laufen, Laufen. Okay, die allabendliche Handwäsche ist Pflicht, aber ansonsten darf ich mich zum ersten Mal in meinem bereits über 51 Jahre andauerndem Leben ausschließlich mit mir selbst beschäftigen. So langsam komme ich dahinter wer ich wirklich bin. Es fällt mir nur noch schwer, es in Worte zu fassen. Fest steht, dass ich dieses Wanderleben zu 98 Prozent genieße. Ich liebe es, im Hier und Jetzt zu sein. Was gestern war, ist auf dem Jakobsweg völlig uninteressant. Was Morgen passiert, kann und muss ich nicht wirklich planen, außer momentan vielleicht mal ein Zimmer zu reservieren, gibt es nichts, für das ich vorsorgen kann oder muss. Ich erinnere mich nochmal daran, dass das mit der Reservierung ja reine Einstellungssache ist - also änderbar! Ich genieße jeden Moment, jeden Menschen, jede Situation und die Landschaft JETZT.
Noch nie im Leben war ich mir all dieser Dinge, die mir begegnen so voll bewusst. Das Loslassen gefällt mir von Tag zu Tag besser: Erleben - genießen - loslassen. Ich käme nie an meinem Ziel Santiago de Compostela an, wenn ich die tollen Menschen, die beeindruckende Landschaft und die schönen Erfahrungen zum Beispiel in Itero de la Vega heute wiedersehen oder erleben wollte. Ich habe gelernt, dass nach dem mentalen Loslassen, zwar ganz andere, aber deswegen nicht minder wertvolle Leute und Situationen auf mich warten. Ich habe gelernt, den Dingen nicht hinterher zu trauern, sondern JETZT die Augen, Ohren und vor allem mein Herz offen zu halten. Ruddi hatte bereits am zweiten Tag gecheckt, dass es auf dem Jakobsweg niemals etwas als mein-Revier-zu-markieren gibt.
Der Weg führt mich direkt neben
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