5 1/2 Wochen
Rucksack, hänge die noch feuchten Socken außen dran und knuddele noch ein bisschen mit Ruddi - erzähle ihm, wie stolz ich auf ihn bin.
Nun sitze ich also beim Frühstück und hänge meinen Gedanken nach. Soll ich den dringenden Rat verschiedener Leute annehmen und tatsächlich für den Abend ein Hotelzimmer reservieren? Ich weiß doch gar nicht, wie weit ich heute komme? Was ist denn, wenn ich das gebuchte Hotel erreiche und es mir nicht zusagt oder ich noch weiterlaufen möchte? Was soll ich bloß machen? Bis jetzt habe ich noch jeden Abend ein Bett bekommen, aber in den letzten Tagen sind besonders viele „normale Touristen“ in den Orten unterwegs und machen Kurzurlaub. Ich habe gehört, dass die Spanier Schulferien haben, da könnte es mit der Übernachtungsmöglichkeit ohne „Vorsorge“ schon außergewöhnlich knapp werden. Oder schaffe ich es trotz dieser Informationen weiterhin, immer locker zu bleiben und zu vertrauen?
Die Antwort auf diese Fragen kommt in Gestalt von Pilgerin Anita. Ich habe sie schon einige Male gesehen, aber nun kommt sie direkt auf mich zu und spricht mich an: „Ich sehe, dass Du Deine noch nassen Klamotten mit Wäscheklammern am Rucksack befestigt hast. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Finde ich toll! Nachher in Carrión werde ich mir auch ein paar Klammern kaufen. Darf ich mich ein bisschen zu Dir setzen?“ „Na klar!“ Ich räume sofort meine Sachen vom Tisch, um ihr Platz zu machen. Sie macht einen ausgeglichenen, herzlichen Eindruck auf mich. Anita kommt aus Erlangen, ist Krankenschwester, so um die Vierzig und strahlt sehr viel Ruhe und Warmherzigkeit aus. Ich gebe ihr sofort einige Wäscheklammern, damit sie sich kein ganzes Paket kaufen muss. Im normalen Leben kann man sich gar kein Bild davon machen, wie groß die Freude ihrerseits über diese kleinen Dinger war. Sie fällt mir um den Hals und versichert sich, dass mir die Teile auch wirklich nicht fehlen werden.
Anita übernachtet immer in den Herbergen und klagt ihr Leid darüber, wie schwierig es in den letzten Tagen doch gewesen sei, unterzukommen. Wann immer es möglich ist, reserviert sie ihr Lager im Voraus. So auch für heute Abend. Sie hat das gleiche Etappenziel wie ich: Calzadilla de la Cueza. Es war ein harter Kampf, dort noch ein freies Bett in einer Herberge ausfindig zu machen. Da! Schon wieder der Hinweis, reservieren zu müssen! Ich kann das jetzt nicht mehr länger ignorieren und will etwas unternehmen. Gerade heute wird die Etappe aller Voraussicht nach hart, denn es steht der absolut längste, kärgste und schattenloseste Abschnitt des gesamten Camino Francés ohne Ortschaften und Versorgungsmöglichkeiten bevor. 17 Kilometer die das Durchhaltevermögen des Pilgers auf die Probe stellen. Diesen Abschnitt gehen selbst viele der ohnehin wenigen „Meseta-Pilger“ nicht.
Nach einer knappen halben Stunde macht sich Anita auf den Weg. Wir hoffen beide, dass wir uns mal wieder begegnen. Durch das Fenster schaue ich ihr nachdenklich hinterher, bis sie um die Ecke gebogen ist. „Niemand und keine Situation passiert Dir einfach so. Jeder Mensch bringt Dir irgendeine Botschaft, die für Dich wichtig ist. Du musst nur genau zuhören, sie erkennen und dann umsetzen“, höre ich meine innere Stimme ungewöhnlich laut und deutlich sagen.
Wild entschlossen begebe ich mich an die Theke und bitte den Besitzer dieses Casa Rural, für mich in dem Hotel in Calzadilla de la Cueza anzurufen und ein Zimmer zu reservieren. Ich überlasse es ihm, Ruddi zu erwähnen oder nicht. Sofort telefoniert er und überbringt mir gute Nachrichten. Wie er sagt, habe ich Glück gehabt, es war das letzte freie Zimmer. Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll: Es ist genau das passiert, was ich nicht wollte. Ich bin auf meinem ureigensten Pilgerweg und sehe mich gezwungen, zu planen. Wer zwingt mich denn? Na, ich selbst! Kein anderer tut das! Ich habe heute diese angstvollen, negativen Gedanken. Bis hierher war das anders. Wobei mir gerade nochmal bewusst wird, dass andere Leute mir von Anfang an Buchungen aufzwingen wollten. Das ging in Saint Jean Pied de Port schon los. Was hat mir denn meine Zuversicht geraubt? Fest steht, dass ich, bis ich sie wieder gefunden habe, Vorsorge treffen muss oder damit zu rechnen habe, im Freien zu übernachten.
Ich habe einen echten Tiefpunkt erreicht. Würde in diesem Moment ein Taxi vorfahren und mich zum Flughafen bringen wollen, stiege ich sofort und ohne weiter darüber nachzudenken
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