5 1/2 Wochen
Beschlag, schmeiße meinen Rucksack ab und fange heftig an zu heulen. Ich bin völlig fertig. Verzweifelt reibe ich mir über die Schienbeine. Selbst im Sitzen tut es mittlerweile weh, wenn ich nur die Füße etwas zu mir ziehen will. Plötzlich bekomme ich Panik. Wenn das morgen noch genauso weh tut, kann ich nicht weiterlaufen. Wäre ich zu Hause, suchte ich einen Arzt auf. Was mache ich denn jetzt? Ich will mich durch nichts davon abhalten lassen, „meinen Weg“ komplett zu Ende zu laufen. Ich tröste mich erst mal damit, dass ich ja gleich da bin und mich ausruhen kann. Später im Hotel werde ich mich mit Reiki behandeln. Morgen ist ein neuer Tag - alles wird wieder gut.
Niemand hat mich so am Boden zerstört gesehen. Gott sei Dank! Ich reiße mich schwer am Riemen und bewege mich ganz langsam - Meter für Meter - Richtung Puente de Órbigo. Ich muss nur noch über diese wunderschöne mittelalterliche Brücke. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, sie zu betreten. Sie ist eine der berühmtesten des gesamten Jakobswegs. Naja, dank der Höllenschmerzen werde ich mein Leben lang keinen einzigen der vielen Schritte über diese Brücke vergessen. Ist auch was besonderes, oder?
Mitten auf der Brücke spricht mich ein besonders gut aussehender junger Mann aus Österreich an: „Ich beobachte Dich schon eine ganze Weile. Brauchst Du Hilfe?“ Sofort schießen mir wieder die Tränen in die Augen. „Ach, das wird schon gehen, mir tun nur die Schienbeine so höllisch weh.“ Er begleitet mich bis zum Ortseingang Hospital de Órbigo und zeigt mir den Weg zur nächsten Herberge. „Nach ungefähr 300 Metern bist Du da. Vielleicht hast Du ja Glück und kannst dableiben. Heute sind allerdings besonders viele Pilger hier, weil es ein Fest im Ort gibt.“ Ich interessiere mich gerade nicht dafür, warum gefeiert wird. Dafür bin ich viel zu sehr damit beschäftigt, nicht einfach zusammenzuklappen.
Dieser junge Mann ist so nett und ich bin ihm von Herzen dankbar für seine mentale Unterstützung, aber ich bin momentan keine gute Gesellschafterin. Er schaut mich mitfühlend an, legt seine Hände auf meine Schultern und meint: „Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Glaub mir, ich weiß, wie es Dir gerade geht, aber das hört genauso schnell wieder auf, wie es angefangen hat. Mach Dir keine Sorgen. Glaub an Dich und Deine Selbstheilungskräfte. Buen Camino!“
gleicher Tag (insgesamt 506,8 km gelaufen)
Hospital de Órbigo (1119 Einwohner), 819 m ÜdM, Provinz León
Hotel, Doppelzimmer, 30 Euro ohne Frühstück
In meinem Zustand sind dreihundert Meter bis zu einer Herberge, die vielleicht komplett belegt ist oder - was sehr wahrscheinlich ist - Hunde nicht einlassen, zu viel. Ich schau mich um und siehe da: Ich stehe genau vor dem Eingang eines Hotels. Ich schleppe mich die vielen Stufen hinauf und fühle mich wie Sylvester Stallone als Rocky Balboa. „Geschafft! Gebt mir ein Bett und ihr seht mich heute nicht mehr wieder - noch nicht einmal zum Essen!“ Rien ne va plus - nichts geht mehr. Mit letzter Kraft schleppe ich mich ächzend ungefähr fünf Meter bis zur Theke und erfahre, dass ich den Laden unverzüglich wieder verlassen muss, weil hier keine Tiere geduldet werden. Mit offenem Mund starre ich den „Lackaffen“ an, der mir diese Worte ohne Begrüßung an den Kopf schmeißt und denke: „Du bist doch auch hier!“
Ich tue so, als hätte ich nichts verstanden. Das kann nicht sein Ernst sein. Sieht der denn nicht, was mit mir los ist? Nein! Sieht er nicht oder es ist ihm schlichtweg egal. Er hält mir die Tür auf und bittet mich mit bösem Blick auf Ruddi, sofort wieder zu gehen. Am liebsten hätte ich ihm eine geknallt, aber dann haut der womöglich zurück und ich lieg im Dreck vor seiner Theke. Also gehe ich lieber kopfschüttelnd vor Entsetzen und Wut wieder raus.
Ich muss ein anderes Hotel finden. Einheimische erklären mir, dass ich zirka einen Kilometer links die Hauptstraße runter laufen soll. Dafür muss ich den offiziellen Camino Francés verlassen. Tja, muss ich dann wohl. Mir bleibt nur die Hoffnung, dass ich unterwegs nicht einfach in den Straßengraben falle und da verrotte.
Aber ich schaffe es und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich stehe an einem Kreisverkehr und es gibt tatsächlich zwei Hotels. Eines zu meiner Linken und eines zum meiner Rechten. Welches nehme ich denn bloß? Ich wähle das ungefähr fünfzweidrittel Meter näher liegende. Nun stehe ich vor einem
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