5 1/2 Wochen
Güte! Landkartentechnisch gesehen bin ich den Spaniern innerhalb eines Monats fast über die gesamte Schädeldecke gelaufen.
Raus aus den Federn und rein in die Wanderschuhe. Die Welt gehört mir. Mein Reiseführer rät dringend dazu, den Aufstieg nach O Cebreiro in den frühen Morgenstunden anzugehen. Scheint spannend zu werden. Die Uhr zeigt mir halb acht an. Okay, der ganz frühe Morgen ist vorbei! Die ersten Vögel sind schon satt. Aber die letzten Tautropfen sind noch nicht verschwunden. Für meinen Geschmack ist halb acht auch erst kurz nach Sonnenaufgang.
Ich bin ganz gespannt, ob José, mein Verehrer von gestern Abend schon mit einer Rose für mich am Frühstückstisch sitzt und ich noch vor dem ersten Café con leche einen Heiratsantrag ablehnen muss! Ich habe jetzt gerade so gar keine Zeit! Ich muss nach Santiago! Lo siento!
Oh! Er hat es sich wohl anders überlegt. Der Wirt ist der einzige, der sich in der Bar aufhält. Keine Spur von José. Wahrscheinlich schläft er seinen Rausch aus und das ist auch gut so. In Gedanken schicke ich ihm liebe Grüße und ein fettes Dankeschön für den Einblick in das Leben eines alten spanischen Ehepaares, das nur der Tod trennen konnte. In seinem Herzen ist José immer noch ganz nah bei seiner Frau. Die Liebe stirbt manchmal eben nicht und das Leuchten in seinen Augen zeugt von glücklichen Erinnerungen an die ganz große Liebe, die er mit seiner Vorstellungs- und Gedankenkraft am Leben erhält. Todo bien, José!
Die heutige Etappe plane ich bis Fonfría, Das sind 25,8 Kilometer. Ob die zu schaffen sind, weiß ich erst heute Abend. Immerhin muss ich über die Berge. Nach O Cebreiro rauf, langsam aber stetig ein ganzes Stück wieder runter und dann über den Alto do Poio, der angeblich nicht zu unterschätzen sein sollte. Ich genieße das kurze Frühstück und wünsche mir von Herzen, dass der außergewöhnlich sympathische Hotelbesitzer wieder auf die Beine kommt und dieses wunderschöne Haus nicht verkaufen muss. José würde ebenfalls daran zerbrechen, wenn „sein“ Bauernhof in fremde Hände gerät. Ich setze ein Zeichen und lege die erste Münze in seine Natursteinwand.
Ganz gemütlich laufe ich über die gleiche, leicht ansteigende, ruhige Landstraße wie gestern. Mit tiefen bewussten Atemzügen nehme ich die frische Bergluft auf. Sie verteilt sich in meinem ganzen Körper. Ich bin topfit und erstaunlich leichtfüßig in dieser unberührten Natur unterwegs. Links von mir plätschert zwischen Wiesen und Berghängen ein Bach. Die Vögel singen ihre Lieder nur für mich. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Ich bin im Paradies, lasse die Seele baumeln und die vielfältige „Stille“ der Natur in mein Herz.
Als Ruddi plötzlich und völlig unerwartet, aufgeregt anfängt zu bellen und an mir vorbei, in die entgegengesetzte Richtung läuft, bin ich vor Schreck einem Herzinfarkt nahe. Ganz weit hinter uns sind zwei Pilger unterwegs, die mein aufmerksamer Hund mir natürlich ankündigen muss. Ich pfeife ihn zurück, aber er ist kaum aufzuhalten. Eine Minute später weiß ich warum. Das sind nicht irgendwelche Pilger! Das sind Mary und Lynn. Sie haben uns natürlich schon lange erkannt und kommen fast angerannt. Nach einer stürmischen Begrüßung und einem zweiten Frühstück für Ruddi aus Lynns Rucksack gehen wir zusammen weiter. Kurz darauf bittet Lynn mich, meinen Schnurzel mal für ein Stückchen unter ihrer Jacke vor der Brust tragen zu dürfen. Sie will wissen, wie sich das anfühlt, will ihm ganz nah sein.
Ich muss Perrito überreden, sich auf dieses Experiment einzulassen. Lieber würde er selber laufen. Aber nach vielen guten Worten, sitzt er vor Lynns Brust, schön warm und geschützt in ihrer Jacke. Mary erklärt mir, dass ihre Freundin unsterblich verliebt in meinen Ruddi ist und sehr oft von ihm spricht. Lynn genießt die Nähe meines Vierbeiners sichtlich. Er hingegen ist äußerst verunsichert und windet sich ein bisschen. Ganz leise beschwichtigt sie ihn.
Sein Kopf guckt unter ihrem Kinn aus der Jacke raus. Er kann es nicht ertragen, mich aus dem Blick zu verlieren. Sein Hals wird immer länger. Ich bleibe also neben den beiden, um ihm Sicherheit zu geben. Seine weit aufgerissenen Augen fragen mich, was er denn wohl falsch gemacht hat, warum ich ihn weggeben will? Es zerreißt mir das Herz. Ich muss ihn galant aus dieser Nummer befreien. Ich kann das nicht mit ansehen, will aber auch Lynn nicht wehtun.
Ich ringe nach englischen
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