5 1/2 Wochen
verstanden und lasse es ihn auch wissen. Er findet das grandios und bestellt uns beiden einen Schnaps. Ich will diese Einladung ablehnen. Ich muss noch den Berg hoch. „Yo Ó Cebreiro, todavía, no, gracias (ich Ó Cebreiro, heute noch, nein, danke).“ Er klopft mir beschwichtigend auf die Schulter und macht mir mit Hilfe des Wirts klar, dass ein Schnäpschen nicht schaden kann. Es wäre sogar noch besser sechs oder sieben zu trinken, damit ich mich heute gar nicht mehr auf den anstrengenden Weg in die Berge machen kann. Das sei viel zu gefährlich und auch schon deutlich zu spät.
Er hat so etwas Liebenswertes an sich, dass ich nicht mehr länger nein sagen kann und wir kippen uns tatsächlich einen hinter die Binde. Damit das hier nicht ausartet, setze ich mich an einen Tisch und fange mit meinen Ritualen an: Ruddi-Decke schön drapieren, Wassernapf hinstellen, Reiseführer raus, Café con leche trinken und lesen - ganz konzentriert lesen. Dann hab ich mit Sicherheit meine Ruhe. Denkste! Er setzt sich ungefragt zu mir und erzählt und erzählt. Er spricht sehr undeutlich. Ich glaube, er lallt ein bisschen und nervt mich so langsam. „Ich brauche ein wenig Ruhe, lass mich doch einfach!“ versuche ich ihm zu suggerieren. Keine Chance! Ich versuche es mit Ignoranz. Fehlanzeige! Er schafft es, meine Aufmerksamkeit quasi zu erzwingen. Ich gebe mich geschlagen. Sehr wahrscheinlich ist es wichtig für mich, ihm zuzuhören. Wer weiß, welche Informationen sich speziell für mich hinter diesem Redeschwall verbergen. Ich will doch immer offen sein, für alles was mir begegnet. Und das hier ist wahrscheinlich sehr wichtig! Warum, wird sich irgendwann zeigen.
So lasse ich mich also auf den alten Señor ein und erfahre, dass er José heißt, 68 Jahre alt ist und seine Frau vor nicht allzu langer Zeit starb. Er hat sie sehr geliebt und vermisst sie immer noch. Je mehr er erzählt, desto besser kann ich ihn verstehen. Oder liegt es einfach daran, dass ich mich nicht mehr dagegen wehre?
Der nächste Schnaps wird mir in die Hand gedrückt. Mit einem entschlossenen Kopfwinken weigere ich mich. José kontert mit einem verschmitzten Lächeln und hebt fordernd sein Gläschen. Naja, wenn ich ehrlich bin, hat der vorhin ganz gut getan... Ach, was soll‘s? „Salud“ und runter damit. Nun macht José ein wenig gut gemeinten Druck und will mich überreden, hier zu übernachten. Ich versuche ihm klar zu machen, dass ich in sieben Tagen in Santiago sein will und die Zeit immer knapper wird. Er bleibt dran: Es sei doch so schön hier. Die Berge, das Dorf, das Hotel. Der Camino halte immer eine Überraschung parat und die soll man sich nicht entgehen lassen. Ja, da hat er natürlich Recht! „Nimm es, wie es kommt“ sagte vor einiger Zeit schon der holländische Herbergsvater zu mir. Ich höre aber auch den Berg rufen. Außerdem weiß ich nicht, wo das hier noch enden soll. Da kommt schon der nächste Schnaps. „Nein, ich muss weiter! Dringend! Lo siento!“
Bevor ich mich auf den Weg mache, gehe ich noch schnell zur Toilette. Ich bin völlig überrascht, wie vornehm selbst das „stille Örtchen“ ist. Hier wird mit absoluter Gewissheit täglich klinisch rein geputzt. Es duftet ganz frisch in diesem großzügigen Raum. Es ist hell, freundlich, ganz modern und liebevoll dekoriert. Ja, ich spreche vom Toilettenraum. Mann, bin ich begeistert!
Mit frisch gewaschenen Händen nehme ich entschlossen den dritten Schnaps vom Tisch und proste dem redseligen José lachend zu. „Ich bleibe!“ „Für immer?“ „Nein, für eine Nacht.“ Mein Gegenüber ist völlig begeistert und fährt mit seinen Ausführungen fort. Dieses Hotel war früher sein Bauernhof. Als seine Frau starb, verkaufte er an den jetzigen Besitzer. Es ist ganz schlimm für ihn, dass sein Freund (oder Verwandter?) zu wenige Gäste hat. Er kann das Haus nicht länger unterhalten, obwohl es auch für ihn ganz schlimm ist, aufzugeben. Der Eigentümer steht in unserer Nähe hinter der Theke, hilft mir, den Señor zu verstehen und hat Tränen in den Augen, als das Thema aufkommt. Mittlerweile ist auch der Sohn des Hauses dazugekommen und schließt sich der Unterhaltung an. Das sind drei ganz außergewöhnliche und sehr liebenswerte Menschen, mit denen ich gerade zu tun habe.
Ich vergewissere mich, dass der Hotelbetrieb noch läuft. Der Wirt ist überaus glücklich darüber, dass ich bleiben will und Ruddi ist ebenso herzlich willkommen wie ich. Mein Verehrer ist damit
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