5 1/2 Wochen
wie ich je wieder hochkommen soll. Ich habe das Gefühl, mich zum Sterben niedergelassen zu haben. Und da kein anderer da ist, bedaure ich mich selbst so gut ich kann.
Nein, so geht das nicht! Ich nehme mich selbst streng ins Gebet: „Stell Dich nicht so jungfräulich an. Beiß die Zähne zusammen! Es gibt viel Schlimmeres! Du hast gar keine Zeit zum Sterben!“ Was ich mir da selber sage, ist eine Unverschämtheit und völlige Ignoranz meiner doch so realen Qualen. Ein paar dicke Tränen stehlen sich aus meinen Augenwinkeln. Nee, auf diese Weise komm ich auch nicht klar. Eine andere Taktik muss her! Ich könnte liebevoller mit mir umgehen. Selbst einen Fremden würde ich in dieser Situation nicht niedermachen, sondern verständnisvoll aufbauen und behutsam in positivere Bahnen lenken.
So fange ich diesen Morgen zunächst einmal mit zwanzig Minuten Reiki an und rufe mir währenddessen einige wunderbare und lustige Erlebnisse der letzten Wochen ins Gedächtnis. Dabei fällt mir auch wieder ein, wie schmerzvoll die ersten Tage auf dem Jakobsweg waren. Wie oft haben Hermann und ich über unsere grotesken Bewegungsabläufe und den dazugehörigen pilgereigenen Stoßseufzern lachen müssen, obwohl uns auch das Lachen wehgetan hat. Je mehr wir es uns verkneifen wollten, desto intensiver wurde unser Galgenhumor. Der Volksmund sagt „Lachen ist die beste Medizin“. Wie konnte ich das vergessen? Ich habe insbesondere hier auf dem Jakobsweg schon so oft die Bestätigung dafür erhalten.
Endlich habe ich mich wieder gefangen und führe ein intensives Gespräch mit dem Universum. Ich bestelle mir per Express einen geschmeidigen und gängigen Körper, Zuversicht, Kraft und absolut positive Gedanken. Die da oben reagieren prompt. Ruckizucki bin ich soweit wieder beweglich, dass ich mir entspannt noch ein paar Minuten die Füße und Beine mit der bewährten Pilgersalbe massieren kann. Eine Viertelstunde später komme ich erfrischt aus dem Bad und fühle mich fit wie ein Turnschuh. Schmunzelnd erfreue ich mich an einem weiteren körpereigenen Allheilmittel - der Kraft der Gedanken!
Nach zwei Tassen Café con leche und frischen Croissants mit lecker Butter und Marmelade verlasse ich dieses tolle Hostal mit einer herzlichen Umarmung meiner Vermieter. Ich bin die letzte Pilgerin, die heute Morgen das Haus verlässt.
Nach Calvor geht es weiter megasteil bergab. Es ist nicht mehr matschig. Die Sonne scheint und hat die Nässe der letzten Tage zum großen Teil vertrieben. So läuft es sich viel entspannter. Heute kann ich den Wald ganz anders wahrnehmen und richtig genießen. Mächtige Bäume säumen den schmalen Pfad. An einen, der sich mir quasi in den Weg stellt, lehne ich mich für ein paar Minuten an.
Das tut richtig gut. Ich kann mich tatsächlich darauf einlassen, mit dem Baum zu verschmelzen - kurze Zeit eins mit ihm zu sein - kann regelrecht fühlen, dass er lebt. Mein Atem wird ruhig und gleichmäßig. Ich fühle mich mit der Erde verwurzelt und trotzdem ganz leicht. Ich glaube, der Baum sortiert gerade meine letzten chaotischen Gedanken aus und lässt sie in den Boden sickern. Mein Kopf scheint sich für das Universum zu öffnen. Wie durch einen riesigen Trichter lasse ich positive Energie in meinen ganzen Körper fließen. Das erste Mal im Leben schöpfe ich bewusst Kraft aus einem Baum - eine sehr bewegende Erfahrung.
Das Gehen fällt mir so leicht wie noch nie. Keine Spur mehr von den Anlaufschwierigkeiten nach dem Aufstehen. Die Wegbeschaffenheit lässt völliges Entspannen zu. Ich bin mit mir und dem Camino im Frieden. Durch die Bäume hindurch zeigt sich mir völlig unerwartet ein Pferd. Es steht einfach ruhig da. Magisch zieht es meinen Blick in seine Richtung und mir geht im gleichen Moment das Wort „Krafttier“ durch den Kopf. Wo kommt das denn jetzt her?
Ich weiß, dass das Pferd für Freiheit und Beweglichkeit steht. Es lehrt mich, im Hier und Jetzt zu sein. Es bedeutet, dass alles im Umbruch ist und ich diesen Weg alleine gehen muss - es ist eine Reise der Selbstentdeckung, mein ganz persönlicher Pfad des Wachstums und der Selbstheilung. Ich werde neue Situationen erleben, die mich wachsen und reifen lassen. Ich soll Vertrauen in meinen Weg haben. Wenn das nicht zum Camino passt, dann weiß ich es auch nicht!
Ich bleibe noch einige Minuten stehen, habe das Gefühl, dass wir beide uns noch etwas zu „sagen“ haben. Gerade als ich leise „adiós“ sage, hebt das Pferd sein rechtes Hinterbein und
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