5 1/2 Wochen
dreht seinen Kopf Richtung dieses Hufs. Da das seine einzige Bewegung ist, verankert sie sich in mir und ich höre die Warnung förmlich, die von diesem Tier ausgeht: „Achte auf Deine Füße, besonders auf die Zehen!“ Als wäre so ein Gespräch mit einem Pferd für mich das normalste der Welt, verabschiede ich mich mit einem „Mach ich, danke Dir“.
Nur fünf Minuten später: Ich bewege mich gerade an einer etwa zwei Meter hohen Böschung vorbei, als ich Geräusche von da oben wahrnehme. Mein neugieriger Blick trifft genau auf die Unterseite einer Kuh. Im ersten Moment bin ich sehr erschrocken. Das Tier ist gewaltig - vor allem, wenn es so viel höher steht. Das Rindvieh ist sehr erfreut, mich zu sehen und ruft zwei Kumpels herbei, die ebenfalls ihre Nüstern blähen und wiederkäuend auf mich herabschauen. Wenn sie noch einen Schritt auf mich zu machen, bin ich platt. Es gibt keinen Zaun zwischen uns. Aber die werden schon wissen, was sie tun. Die stehen ja nicht das erste Mal hier.
Tja, dann hab ich heute wohl den Tag der Krafttiere. Die Kuh bringt Fülle und Segen. Sie will mir sagen: „Die universale Quelle ist immer da. Fühl Dich mit allem versorgt, was Du brauchst. Stärke die Verbindung zu ihr. Wähle den Weg, der Dir guttut. Du findest gerade den Anschluss an Dein wunderbares, schöpferisches Potential. Ich führe Dich auf Deine innere Weide. Dort kannst Du ausruhen, alles Erlebte gründlich verdauen und neue Kraft schöpfen. Bringe Geben und Nehmen in die vollendete Balance. Denke darüber nach, was Du für Dein Wohlergehen brauchst und genieße dann den Strom des Lebens.“ Wow, noch keine zehn Uhr und schon so viele wunderbare Erfahrungen! Ich bin ganz gespannt, was der Tag mir bringt und gehe offenen Herzens weiter „meinen Camino“.
Nach insgesamt sechs Kilometern erreiche ich Sarría. Ich zähle diesen Ort mit fast 10.000 Einwohnern zu den Großstädten. Gerade heute bin ich sehr besinnlich und will nur ganz schnell da durch. Ich trinke direkt am Ortseingang in einer sehr großen Gaststätte einen Café con leche. Die Sonne scheint und ich habe es mir auf der Terrasse direkt an der mäßig befahrenen Hauptstraße bequem gemacht. Ab und zu hält ein Auto an, dessen Fahrer eilig ins Rasthaus springt, mit einem Getränk zurückkommt und wieder davon rauscht. Ganz relaxt beobachte ich das rege Treiben eine Weile und genieße in vollen Zügen die Tatsache, dass ich seit Wochen keinerlei Alltagsstress mehr zu bewältigen habe.
Bis ein kleiner Lieferwagen anhält, dessen Radio mit voller Lautstärke die gesamte Stadt unterhält. Der Bass kommt einer Klangmassage nah. Der junge Fahrer steigt mit seinem Handy am Ohr aus und telefoniert inbrünstig vor dem Auto. Im Wageninneren hört er ja schließlich nicht, was sein Gesprächspartner ihm sagen will. Ein zweiter Wagen hält an. Die eingebaute Anlage steht der ersten in nichts nach und hält mit völlig anderer Musik fordernd dagegen. Die beiden Männer kennen sich. Mit großem „Hola“ und „Qué tal“ findet nur drei Meter von mir entfernt eine Wiedersehensparty zu ihrem Höhepunkt, als zwei sexy Señoritas die Straße herunter spaziert kommen. Was hat eben die Kuh zu mir gesagt: „Wähle den Weg, der Dir guttut.“ Nein, ich meine nicht eine der Señoritas, sondern das Rindvieh auf der Böschung. Ja, dann: „Adiós, queridos (tschüss, meine Lieben)!“ Schmunzelnd mache ich mich aus dem Staub. Das ist eben der ganz normale Wahnsinn. Und den gibt es auch auf dem Jakobsweg.
Sarría ist - von Santiago de Compostela abgesehen - die größte Stadt im galicischen Teil des Jakobswegs. Ich genieße wider Erwarten den Spaziergang durch die engen und steilen Gassen der schönen Altstadt. Obwohl jede Menge los ist, bleibe ich erstaunlich gelassen. Ich habe auf den vielen hundert Kilometern noch nie so viele Pilger gesehen, die offensichtlich ihre erste Etappe vor der Nase haben. Ist aber kein Wunder, denn Sarría liegt nur etwas mehr als hundert Kilometer von Santiago entfernt und ist somit ein wichtiger Startpunkt für Pilger, um die begehrte Compostela zu erhalten.
Auf den sogenannten „corredoiras“ geht es weiter durch die gebirgige Region Galicien. Die von Steinmauern gesäumten Wege, über die die Kühe auf ihre Weiden getrieben werden, führen durch eine Reihe kleiner Weiler, durch Täler, die von der Außenwelt fast abgeschnitten und dadurch wirtschaftlich kaum entwickelt sind. Ich bin mir sicher: Hier ist die Zeit stehengeblieben.
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