5 1/2 Wochen
Galicien ist bekannt für seine ergiebigen Regengüsse und das, durch den nahegelegenen Atlantik, kühlere Klima. Die Natur ist dementsprechend üppig und so saftig grün, wie ich es noch nirgendwo gesehen habe.
Die Corredoiras machen ihrem Namen alle Ehre. Ich finde mich im Wald inmitten einer Kuhherde wieder. Von ihrem Besitzer fehlt jede Spur. Ich bin ein bisschen beunruhigt. Da es zwischendurch immer wieder einen Regenschauer gibt, hängt mein feuerroter Poncho griffbereit über dem Rucksack. Die Rinder sind auch sehr interessiert an mir. Ruddi brauche ich nicht zu retten, der läuft weit ab vom Weg durch das Gestrüpp. Ich bewege mich wie in Zeitlupe mit weit ausgebreiteten Armen, wild klopfendem Herzen und starrem Blick durch die geschätzten zwanzig Tiere starke Herde. Kaum hörbar geht von mir ein zaghaftes „Hilfe!“ aus. Ich will ja keinen erschrecken! Wenn diese Tiere anfangen zu rennen, hab ich wahrscheinlich verloren.
Und tatsächlich entdecke ich endlich den Bauern, der mit einem Stock in der Hand lässig vor den Kühen her spaziert. Nur noch fünf oder sechs muss ich überholen, dann hab ich es überstanden. In Schweiß gebadet und um Anerkennung meines Mutes ringend, schenke ich dem Señor ein erleichtertes „Hola“. Wie war das noch mit dem Krafttier Kuh? Fülle und Segen? Dem scheine ich ja besonders nah zu sein.
Außerhalb des Waldes, zwischen den Wiesen wandernd, stelle ich mir vor, dass es so in Irland aussehen muss. Die niedrigen Steinmauern ziehen sich durch die gesamte grüne Landschaft. Weit und breit ist kein Pilger zu sehen, obwohl doch auf diesen letzten 100 Kilometern, so viele mehr unterwegs sind.
Zwischen Barbadelo und Ferreiros treffe ich auf einen Engländer, der hier lebt. Er macht seinen täglichen Paseo (Spaziergang) und begleitet mich einige Kilometer. Er ist den Camino Francés vor Jahren gelaufen und anschließend hierhin ausgewandert. Er hat das nie bereut und kann sich nicht mehr vorstellen, anders zu leben. Man sieht ihm an, wie zufrieden und glücklich er ist. „Auf dem Jakobsweg zuhause zu sein, ist etwas ganz besonderes. Jeder Pilger bringt ganz intensive Energien mit. Vor allem die, die schon viele Tage und Wochen laufen. Es gibt nichts Spannenderes, als sich mit den Wanderern aus aller Welt über ihre ganz persönlichen Erkenntnisse auf ihrem langen Weg zu unterhalten.“ Er sagt: „Denke immer daran, dass du deine Gedanken transformierst. Wenn Du einen Stein ins Wasser wirfst, ruft er um die Eintauchstelle herum Kreise hervor. Genau so verhalten sich Deine guten und schlechten Gedanken. Sie berühren den menschlichen Geist und erzeugen in ihm Vibrationen und mentale Atmosphären, die sich in alle Richtungen ausbreiten.“ Ich weiß, dass es so ist, vergesse es nur manchmal. „Gracias!“ Das Gespräch mit diesem Mann hat mir unendlich gutgetan.
gleicher Tag (insgesamt 687,6 km gelaufen)
Vilachá (ca. 20 Einwohner), ca. 500 m üdM, Provinz Lugo
Privat, unterm Dach, 0 € (nada, nikkese, niente) inkl. Abendessen/Frühstück
In Vilachá habe ich von jetzt auf gleich das Gefühl, dass meine Füße keinen weiteren Kilometer mehr mitspielen. Mit jedem einzelnen Schritt in dieses Dörfchen hinein verlässt mich auch ein Stück meiner Kraft. Eigentlich will ich heute in Portomarin übernachten. Krieg ich das noch hin? Momentan könnte ich mir sogar vorstellen, mitten auf dem schmalen Weg in meinem Schlafsack zu übernachten. Meter für Meter schleppe ich mich weiter. Allein der Gedanke daran, ein schickes Hotel in dem großen Portomarin zu finden, hält mich noch auf den Beinen. Wie weit mag es denn wohl noch sein?
Ich spreche einen Mann an, der sich unter der geöffneten Motorhaube seines Autos zu schaffen macht. „Quantós kilómetros está a Portomarín (wie viele Kilometer sind es bis Portomarín)?“ Lachend wendet er sich mir zu und strahlt mich an: „Sólo dos millas (nur noch zwei Kilometer)!“ Seine ganze Aufmerksamkeit gilt mir und vor allem Ruddi. Nach wenigen Minuten höre ich englische und sogar deutsche Worte von ihm. Da fällt das Sich-Mitteilen gleich leichter. Ich zappele von einem Fuß auf den anderen, weil die stetige Belastung im Stehen zu sehr schmerzt. Der Señor nimmt das wahr. „Du solltest Dich ausruhen. Es ist nicht gut, wenn Du die Warnzeichen des Körpers ignorierst. Dann steigt die Unfallgefahr. Ich fahre Dich runter in die Stadt!“ sagt er und lässt seine Motorhaube schwungvoll runter klappen. Dankbar, aber wie immer
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