5 1/2 Wochen
gedacht, dass ich es genießen könnte, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute einfach immer weiter zu gehen, ohne zu wissen, was als nächstes passiert; nicht umzukehren, um vielleicht Vergessenes nachzuholen oder Schönes zu wiederholen. Nach 5 ½ Wochen ständigen Loslassens weiß ich, dass genau das der Sinn des Lebens ist, dass ich am Wegesrand die Geschenke des Lebens einfach pflücken kann, wenn mein Herz offen ist.
Ich muss weg! Tief Luft holen und einfach so tun, als wäre das ein ganz normaler Pilgertag. Was das Ende bringt, erfahre ich noch früh genug. Ich entscheide mich für das Hier und Jetzt. So habe ich das die letzten 37 Tage gemacht, warum soll das heute anders sein? Nicht, dass ich die letzten Überraschungen verpasse, nur weil meine ganze Konzentration auf Santiago de Compostela und dem „Danach“ liegt. Ich will heute noch so viele Erlebnisse pflücken, wie eben möglich.
Ich gehe die 21 Kilometer locker und gemütlich an. Entspannt spaziere ich in Pedrouzo an netten, gepflegten Einfamilienhäuschen vorbei. Ich bin ganz entzückt, als ich in einem Vorgarten eine Hundemutter ausgelassen mit ihrem Welpen spielen sehe. Aus einigen Metern Entfernung beobachte ich das seltene Schauspiel. Mir fällt sofort die schwarze Hündin ein, die jetzt daheim bestimmt auch mit ihren Babies spielt. Die Hausbesitzer und ihre Kinder beaufsichtigen liebevoll lächelnd und zurückhaltend Hunde-Mama und Baby. Ich habe vor Rührung Tränen in den Augen. Leise nähere ich mich ihnen. Sie grüßen und ich kann meine Neugier nicht zurückhalten.
Die Unterhaltung mit Händen und Füßen ist natürlich holprig. Aber wenn ich die Leute richtig verstehe, ist das vermeintliche Baby bereits zwei Jahre alt und die angebliche Hundemama wohnt hier gar nicht. Die Tiere spielen einfach nur zufällig miteinander. Sie wissen nicht, wo der schwarze Hund hingehört. Ich kann das gar nicht glauben, frage sicherheitshalber nochmal nach. Aber sie bleiben bei ihrer Aussage. Anstatt einfach weiterzugehen, kann ich mich gar nicht losreißen, von den herumtollenden Vierbeinern. Ruddi zieht sich vornehm zurück. Sein Verhalten drückt aus: „Für so einen Unsinn bin ich zu alt. Und überhaupt: Es wäre besser für uns, wenn wir einfach weitergehen. Komm schon!“
Zwei Minuten später weiß ich warum! Die schwarze Hündin hat genug gespielt und kommt nun schwanzwedelnd und laut junksend auf mich zugerannt. Sie will mir sagen: „Endlich! Wo bleibst Du denn? Ich warte schon die ganze Zeit auf Dich! Ich zeig Dir den Weg nach Santiago. Los, wir gehen!“ Sie steht hautnah vor mir und guckt mit großen, treuen Augen zu mir hoch. Die Leute sind natürlich völlig irritiert. Ich werde gerade verrückt. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ich träume doch!
Ich flehe das spanische Ehepaar an, diesen Hund im Garten zu halten, bis ich weit genug weg bin. Aber sie lassen sich nicht darauf ein. Wahrscheinlich glauben sie, ich hätte ihn aus Deutschland mitgebracht und wollte ihn hier loswerden. Ich versuche, ihnen die Geschichte von gestern zu erzählen - sie können oder wollen mich nicht verstehen. Ich kann es den beiden nicht übel nehmen, denn die Hündin ist so brav an meiner Seite, als hätte ich sie bereits als Welpen zu mir geholt. Zu allem Überfluss lässt das Verhalten zwischen Ruddi und ihr auch keinen anderen Schluss zu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als nun wieder mit zwei Hunden an meiner Seite weiterzugehen.
Am Ortsausgang bitte ich einen alten Señor um einen Tipp wegen eines zugelaufenen Hundes. Er sagt: „Mach Dir keine Sorgen. In dieser Gegend laufen sie oft ein paar Kilometer mit den Pilgern und kehren dann freiwillig wieder um.“ Damit ist er durch und geht seiner Arbeit wieder nach. Na, dann will ich das mal glauben.
Es ist sehr heiß heute. Meine letzte Etappe wird von strahlendem Sonnenschein begleitet. Bei Labacolla führt der Camino de Francés den Pilger um das gesamte Flughafengelände herum. Er ist sehr angenehm zu gehen, will aber einfach kein Ende nehmen. Hier treffe ich auf den redseligen Jesus. Nein, ich meine nicht Gott. Jesus ist ein spanischer Pilger, geschätzte 65 Jahre alt und federnden Schrittes unterwegs. Er ist sehr temperamentvoll, seine Augen strahlen vor Lebenslust. Er staunt nicht schlecht, als ich ihm erzähle, dass ich in Frankreich gestartet bin. Am liebsten wäre ihm, ich hätte alles mit der laufenden Kamera festgehalten. Tausend Fragen prasseln auf mich nieder und ich habe Spaß daran, zu
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