5 1/2 Wochen
gesehen. Hängen geblieben ist bei mir der penetrante Geruch, den im fensterlosen Herbergszimmer ihr Stinkkäse verbreitete. Hier und jetzt muss ich das Gleiche in der prallen Mittagssonne durchmachen. Auch sonst ähneln sich die Münchnerinnen damals und heute sehr. Sie legten auf „ihrem“ Weg viel Wert auf Organisation und Planung und sind in der Lage, alles aus ihren Rucksäcken hervorzuzaubern, was für Eventualitäten gebraucht werden könnte. Das Geschirr und Besteck, das momentan auf diesem Tisch steht, verstauen sie auch nach und nach wieder. Den Käse haben sie ebenfalls mitgebracht. Tja, es sind eben Münchner Dirndl. Die lassen hier in Galicien ihr einzigartiges heimatliches Biergartenflair aufleben.
Die Hälfte der heutigen Etappe liegt hinter mir. Jesus hat sich abgesetzt. Die schwarze Hündin läuft treu und brav neben mir und Ruddi her. Ich bin zwar erst eine halbe Stunde wieder unterwegs, aber diese kleine Herberge, an der ich gerade in Villamaior vorbeikomme, lockt mit zwei Tischen und vier leeren Stühlen vor der Eingangstür. Sie „ruft“ mich förmlich: „Café con leche? Ganz in Ruhe? Wär das was?“ „Na klar! Es ist erst zwei Uhr!“
Ich stelle meine Sachen draußen ab und hole mir einen Kaffee, nicht ohne zu fragen, was ich mit einem zugelaufenen Hund machen könnte. „Nichts, der geht schon wieder!“ Ja, klar! Fragt sich nur wann? Ich fühle mich ziemlich alleingelassen mit meinem Problem. Als ich mit lecker Café con leche wieder rauskomme, liegen meine Perros einträchtig am Tisch und haben fein meinen Platz freigehalten. Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits möchte ich unbedingt mit Ruddi alleine in Santiago einlaufen, andererseits hat die Hundedame schon lange mein Herz erobert.
Bei einem weiteren Kaffee lerne ich zwei Pilgerinnen kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Jüngere ist eine typische Chef-Sekretärin, die Ältere kennt alle Krankheiten, die es auf dieser Welt gibt. Und sie hat sie natürlich auch alle schon gehabt oder noch vor sich. „Da muss man durch. So ist das Leben.“ Jetzt sitzen sie hier und wissen nicht weiter. Die Kranke kann keinen einzigen Meter mehr laufen und hat sich ein Taxi bestellt. Die Sekretärin möchte weinen, weil sie nicht fahren will. Seit hunderten Kilometern plagt sie sich schon mit den nicht wirklich vorhandenen Krankheiten ihrer Begleiterin ab und ist nervlich am Ende. Als das Taxi fünf Meter von uns entfernt hält, sieht sich der Fahrer veranlasst, die gebrechliche Pilgerin fast ins Auto zu tragen. Sie hängt wimmernd an seiner Seite. Die beiden entfernen sich nur schleppend. Ich habe ernsthaft Sorge, dass sie es nicht mehr bis zum Auto schafft. Sie wirft ihrer Freundin, die sich durchgesetzt hat und die drei Kilometer bis Monte do Gozo allein und zu Fuß geht, einen bitterbösen Blick zu.
Nun sitze ich mit einer Frau am Tisch, die das Gefühl hat, die größte Verräterin aller Zeiten zu sein. Sie hat Tränen in den Augen und bittet mich so inständig um Hilfe, als wäre sie eine Gefangene der Situation und des Hypochonders. Sie wäre viel lieber von Anfang an alleine unterwegs gewesen. Als sie vor fast einem Jahr auf die Idee kam, den Jakobsweg zu gehen, fand die andere das grandios und beschloss, mitzumachen. Sie fragte gar nicht danach, ob das erwünscht ist. Mein Gegenüber hat zwar alle Bedenken ihr gegenüber geäußert, kam damit aber nicht durch. Die Kranke sagte immer nur: „Du wirst sehen. Das wird toll. Auf dem Jakobsweg werde ich bestimmt wieder gesund. Ich passe mich auch Deinem Tempo an.“ Fatal! Angepasstes Tempo kann nicht gesund machen!
Wie furchtbar muss es sein, den Camino Francés gezwungenermaßen mit jemandem zu laufen, der ständig jammert. Wie selbstlos ist die junge Frau? Rücksicht auf jemanden zu nehmen, der trotz seiner Krankheiten entschieden hat, sich ihr auf einer Pilgerreise regelrecht aufzudrängen? Wie viel Egoismus kann man sich gefallen lassen? Was ist mit der Liebe zu sich selbst? Diese Frau, die mir jetzt gegenüber sitzt, ist durch ihre Rücksicht nun psychisch krank. Oder war sie es schon vor Antritt der Reise? Mit sich alleine auf dem Jakobsweg, wäre sie dahinter gekommen, dass sie anderen nur helfen kann, wenn sie sich selbst helfen wollen. Und sie hätte gelernt, wie wichtig es ist, sich selbst zu lieben. Sie wüsste jetzt, dass andere ihr nur so viel Liebe und Verständnis entgegenbringen können, wie sie sich selbst in der Lage ist zu geben. Ich kann ihr nur
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