5 1/2 Wochen
Wo ist der denn jetzt?“ Ich kann vor Schreck und Entsetzen nur Zischlaute von mir geben: „Pscht, schschsch. Der ist in der Tasche und keiner darf es wissen!“ Die verstehen meine Aufregung nicht: „Warum nicht?“ „Weil hier Hunde verboten sind.“ Sie staunen über meinen Mut und die Zuversicht, dass er sich ruhig verhält, und dann steht auch schon das Essen vor uns. Wir fallen darüber her, als hätten wir seit Tagen nichts mehr bekommen.
Beunruhigt beobachte ich, dass jetzt die Herbergsmutter die Tür nach draußen abschließt. Tja, da muss Ruddi wohl oder übel bis morgenfrüh durchhalten. Aber das dürfte kein Problem sein, wir waren erst nach 21 Uhr hier. Hermann eröffnet mir nach dem Essen, dass er morgens früher losgehen möchte. Er denkt an sechs Uhr. Das ist mir viel zu früh und wir beschließen, dass wir getrennt laufen werden. Ich habe den Gedanken schon ein, zweimal gehabt, dass ich ursprünglich vorhatte, den Jakobsweg alleine zu gehen. Das schließt ja nicht aus, dass man sich in den Bars oder abends beim Essen trifft.
Wir erledigen noch die Formalitäten und lassen uns den Stempel in den Pilgerausweis drücken, bevor wir den „Aufstieg“ zu unserem Zimmer wagen. Da entdecke ich doch tatsächlich auf der Theke diese blauen Kunststoffarmbänder mit den gelben Pfeilen drauf, die Mary und Lynn tragen. Natürlich kaufe ich mir eins, lege es überglücklich an und fühle mich sofort mit den beiden eng verbunden. Wie es ihnen wohl geht? Wo mögen sie heute gelandet sein?
Anmerkung: Ich habe im Januar 2010 meinen Mädchennamen wieder angenommen. 2008 hieß ich noch Birgit Abitz, wie meinen Pilger-Dokumenten zu entnehmen ist.
Sonntag, 20. April 2008
Uterga (158 Einwohner), 493 m üdM, Navarra
6. Etappe bis Lorca, 20,4 km
Es hat die halbe Nacht heftig gestürmt und der Regen hat lautstark auf das schräge Dachfenster geprasselt. Gegen 6.30 Uhr werde ich unter anderem durch Hermann wach. Er packt leise seinen Rucksack, um wie geplant den Tag wesentlich früher zu beginnen als die vorangegangenen. Wir werden uns heute Abend in Lorca treffen und zusammen Abendessen. Ich tu so, als hörte ich ihn nicht, damit er kein schlechtes Gewissen kriegt, denn er ist wesentlich leiser, als die anderen Pilger in den angrenzenden Zimmern. Die nehmen keine Rücksicht auf Spätaufsteher und verabschieden sich lautstark auf dem Korridor. Mein Handy-Wecker hat den Auftrag, mich um acht zu wecken.
Als die Tür ins Schloss fällt, drehe ich mich nochmal um und schlafe sofort wieder ein. Auf dem Flur ist Ruhe eingekehrt. Es können nur wenige Minuten vergangen sein, als jemand ganz leise, aber ziemlich verzweifelt meinen Namen ruft. Hermann steht vor der geschlossenen Tür und bittet mich, zu öffnen. Erschrocken springe ich mit unterdrückten Weh-Lauten aus dem Bett - der Muskelkater schlägt wieder erbarmungslos zu. Fast stolpere ich über die Wanderstöcke meines Freundes und nehme sie direkt mit an die Tür. Die sind ja wohl der Grund seiner Rückkehr.
Er hat Schweißperlen auf der Stirn und flüstert: „Tut mir leid, dass ich Dich geweckt habe, aber ich habe meine Stöcke vergessen. Ich hab mich nicht getraut zu klopfen, dann hätte Ruddi bestimmt gebellt.“ „Das Zimmer war doch gar nicht abgeschlossen, warum kommst Du denn nicht einfach rein?“ frage ich und drücke ihm seine Gehhilfen in die Hand. „Oh nein! Das auch noch! Bin ich blöd! Es tut mir so leid. Leg Dich wieder hin und schlaf weiter. Ich störe nicht mehr.“ flüstert er. Bevor er anfängt zu weinen, versichere ich ihm, dass es halb so wild sei. Du wirst uns noch schmerzlich vermissen.“ sage ich scherzhaft und wünsche ihm einen „buen camino“. Ruddi nimmt das Ganze nur aus den Augenwinkeln wahr und kuschelt sich tiefer in seine weiche, warme Decke.
Ich mache es ihm nach, aber nach einer halben Stunde werde ich wieder wach und entscheide mich dafür, es dabei zu belassen. Ich freue mich darauf, heute mal alleine zu laufen und blättere in meinem Reiseführer. Ich lese zur Erinnerung noch ein bisschen in den Seiten der gestrigen Etappe und entdecke den Hinweis, dass der Anstieg auf den Alto del Perdón einer der längsten des gesamten Pilgerwegs ist. Schade, dass ich das gestern noch nicht wusste. Oder ist es vielleicht besser so? Diese Information kann einen stark machen, sie kann aber auch schwächen. Die Pyrenäen liegen hinter uns, lese ich hier. Hoffnung keimt in mir auf, dass die Bergkletterei nun ein Ende hat.
Die
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