5 1/2 Wochen
geplante Etappe scheint wesentlicher einfacher zu sein. Die Sonne lacht vom strahlend blauen Himmel durch das Fenster. Jetzt hält mich nichts mehr im Bett. Während Ruddi frühstückt, verschwindet sein Schlafplatz im Rucksack und blitzschnell packe ich meine Sachen drauf. Trotz des schönen Wetters ziehe ich meinen Poncho an, um Ruddi darunter verschwinden zu lassen. Es ist jetzt halb neun und die Herbergsmutter wird sicher schon auf den Beinen sein. Ja, ich weiß! Die Nacht ist rum — soll sie Ruddi doch sehen. Ich Wollte ja drauf pfeifen!? Der Unterschied zu den ersten Tagen ist der,
dass ich nicht mehr so nervös bin, aber einfach keine Lust auf einen Abschied mit Stress habe. Die Wirtin soll mich in guter Erinnerung behalten und sich nicht am frühen Morgen schon ärgern müssen. Ist zwar auch Blödsinn, denn ich komme ja nicht mehr wieder, aber bevor ich schimpfend vom Grundstück gejagt werde, sage ich lieber lachend: „Adiós, y gracias por todo (Tschüss, und danke für alles)!“ Letztendlich verlasse ich die Herberge, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein.
Ich lasse Ruddi frei. Wie auf Kommando schlagen alle Hunde der Straße Alarm. So, nun ist das Dorf also auch endlich wach! Kann bestimmt nichts schaden bei dem schönen Wetter. Ich packe meinen Poncho ganz unten in den Rucksack und beginne fröhlich die heutige Etappe. Am Dorfausgang geht es weiter auf einem Schotterweg. Nach ein paar Minuten wird man durch ein sehr großes Plakat darauf aufmerksam gemacht, dass der Camino Francés rechts herum verläuft. Der Hinweis ist bestimmt so groß, weil der Weg, auf dem ich mich gerade befinde, sehr breit und einladend aussieht. Hinzu kommt, dass die Aussicht hier atemberaubend ist. Wenn man sich davon zu sehr ablenken lässt läuft man Gefahr, selbst das größte Schild zu übersehen.
Ich biege also ab und schon laufe ich wieder im gewohnten Matsch auf einem Trampelpfad. Na bitte, geht doch! So fühle ich mich heimisch. Spontan fällt mir Hermann ein. Ob er sich wohl hier verlaufen hat? Ich bin fest davon überzeugt und suche nach seinen Schuhabdrücken, die sehr leicht auszumachen sind. Sie zeichnen sich durch große Kreise aus, die ich als „kleine Ufos“ betitelt habe. So sehr ich auch suche, ich finde solche Abdrücke nicht. Oh Mann, wo mag der wohl gelandet sein? Bestimmt irrt er durch die Felder. Hoffentlich merkt er es nicht allzu spät, dass er nicht mehr auf dem offiziellen Camino ist.
Kurz vor elf, nach sieben Kilometern über recht angenehme Feldwege und ein kurzes Stück an der Nationalstraße entlang, erreiche ich Puente la Reina. Es ist eine kleine Stadt mit ungefähr 2500 Einwohnern. Die meisten von ihnen sind auf dem Weg in die Kirche. Wir haben ja schließlich Sonntag. Als ich den Vorplatz erreiche, läuten die Glocken wie wild und ich fühle mich standesgemäß begrüßt. Es herrscht reger Autoverkehr. Alle suchen einen Parkplatz. Väter, Mütter und Kinder steigen aus ihren Wagen und strömen in das Gotteshaus. Ich bleibe stehen und beobachte das friedvolle Treiben. Auf dem Glockenturm haben sich zwei Storchenpaare Nester gebaut.
Sie sind ebenfalls sehr beschäftigt, entweder mit der Futtersuche oder vielleicht auch mit den Baustoffen für ihr Heim. Sie runden auf eine sehr schöne Weise die Idylle ab.
Ein kleiner, etwa acht Jahre alter Junge spricht mich an: „Qué tal? (Wie geht’s?)“ Ich möchte gerne was Kluges darauf antworten, aber das kommt gerade so unverhofft, dass ich ihn nur mit einem dämlichen Grinsen anstarre. Wochenlang habe ich zuhause auf eigene Faust Spanisch gelernt. Fast täglich Vokabeln geübt, immer wieder die CDs angehört und jetzt kann ich vor lauter Schreck diese einfache Begrüßung nicht erwidern?! Das kann doch nicht wahr sein! Angestrengt krame ich in meinem Hirn und suche nach der richtigen Antwort. Das dauert dem Kind zu lange. Er baut sich lächelnd vor mir auf und hilft mir auf die Sprünge: „Qué tal? - Yo muy bien, gracias. (Mir geht es sehr gut, danke.) Qué tal?“ Süß! Der Kleine ist spanisch charmant und sagt mir meine Antwort vor. So einfach ist das - nur eine Höflichkeitsfloskel, aber sie verbindet. Ich bedanke mich lachend bei ihm für diese kleine Spanisch-Lektion und komme nicht darüber hinweg, dass mir diese wenigen Worte nicht eingefallen sind. Diese kurze Begegnung hat mir richtig gut getan.
Beschwingt setzte ich meinen Weg durch die Gassen von Puente la Reina fort. Kurz vor dem Ortsausgang überquere ich die berühmte
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