5 1/2 Wochen
mal ein Foto zu machen, zum Beispiel vor der Eingangstür seiner Herberge. Danke, hätte ich jetzt vergessen; dabei ist das eine Premiere - ich habe noch nie im Leben in einer Herberge übernachtet. Ich winke noch den Münchnerinnen zu. Sie verlassen auch gerade das Haus, wollen sich aber im Supermarkt noch was zu essen kaufen. Ich hole mir beim Bäcker nebenan nur ein frisches Baguette und eine Flasche Wasser. Ich hab ja schließlich gefrühstückt.
Um 10.20 Uhr verlasse ich, über meine teuren Trekkingstöcke stolpernd, Saint Jean Pied de Port durch die Porte d’Espagne in Richtung Route de Napoléon. Ich wähle den steileren, aber ruhigeren Weg. Wenn Napoléon mit seinen Truppen hier laufen konnte, dann kann ich das auch. Wenn schon, denn schon! An der Nationalstraße entlang laufen kann ja jeder. Optimistisch gehe ich mit kurzen Schritten und schön langsam die sehr stark ansteigende, geteerte, aber wenig befahrene Straße hoch.
Schon bald ist der Ortsrand erreicht und ich habe ausschließlich hügelige Wiesen, Felder, Weiden mit Schafen und Kühen und schneebedeckte Berge um mich herum. Diese Landschaft hat eine außerordentlich beruhigende Wirkung auf mich. Mehrere Pilger überholen mich und ich überlege, wieso die so schnell hier hoch laufen können. So höre auch ich zum ersten Mal den Pilgergruß „buen Camino“ von Vorbeiziehenden.
Nach kurzer Zeit habe ich die grandiose Idee die Wasserflasche, die vorne links am Schultergurt meines Rucksacks gut gelaunt in Ruddi’s „Notfallnetz“ baumelt und mich dauernd anrempelt, in eines der beiden praktischen Außennetze zu stecken. Das hat extrem genervt - ich muss schließlich bergauf gehen! Ich fühle mich richtig befreit. Aber ungefähr alle 200 Meter muss ich stehen bleiben und die Landschaft bestaunen. Na gut: Um ehrlich zu sein halte ich an, um meinem Körper gut zuzureden, dass er bitte schön bei unserer Pyrenäen-Überquerung mitmacht. Ruddi läuft fröhlich vor mir her. Er geht halt Gassi.
Nach zirka fünf Kilometern ohne nennenswerten Verkehr, erreiche ich das 500 Meter hoch gelegene Honto. Das sind 340 Höhenmeter auf dem kurzen Stück. Ich verfluche diese blöden Stöcke. Dauernd springen die mir zwischen die Füße. Hätte ich die doch bloß nicht gekauft - lästig, die Dinger! In den Rucksack kommen die mir mit ihren fast 600 Gramm aber nicht.
Nach ungefähr zwei Stunden erreiche ich Honto und sehe Mary und Lynn auf der Terrasse (mit Stühlen!!) des weit und breit einzigen Anwesens. Sie unterhalten sich angeregt mit der Hausherrin und winken mich heran. Ich begebe mich direkt dorthin (gehe nicht über Los) und sinke erschöpft in einen der Stühle. Meine „Betreuerinnen“, die gestern schon ihr Bett in der Albergue in Orrison reserviert haben, raten mir dringend, hier zu übernachten. Wir befinden uns also gerade auf dem Gelände der Honto-Herberge. Ich lehne entschieden ab. Ich will wenigstens bis nach Orrison laufen. Resolut geben sie mir nun bereits zu dritt mit Händen und Füßen zu verstehen, dass das noch drei Kilometer sind und der Weg noch steiler wird. „Außerdem ist schon seit gestern da oben kein Bett mehr frei.“ Die Herbergsmutter bietet mir ein freies Zimmer an. Ohne mich auch nur im Geringsten darauf einzulassen - schließlich will ich ja irgendwann auch in Santiago de Compostela ankommen - sage ich keck: „I want to go to Orrison today (Ich will heute nach Orrison gehen). Buen Camino.“
Gleichzeitig setzen wir unseren Weg fort, aber die Kanadierinnen sind schneller als ich. Meine Trekkingstöcke und ich kommen übrigens wider Erwarten mittlerweile doch ganz gut zusammen klar. Ich habe ein wenig das Gefühl, dass das eine sehr innige Freundschaft werden könnte. Solange ich mich nicht auf sie konzentriere, sondern die Dinger einfach machen lasse, schieben sie mich sogar ein bisschen den Berg hoch, anstatt mir „Füßchen“ zu halten.
Ruddi humpelt seit einigen Minuten und ich habe keine Ahnung, warum. Die Sonne scheint vom wolkenlosen Himmel. Es ist sehr, sehr warm, also wäre jetzt hecheln angesagt, aber wieso humpelt er? Ich untersuche seine Pfoten und Beine. Nichts zu erkennen. Ich möchte weinen. Nach dieser Anstrengung bin ich selbst schon zu schwer für meine Beine und Füße, hinzu kommt der Rucksack. Wie soll ich denn jetzt noch Ruddi tragen? Was sagte meine Mutter: „Wenn Du musst, hast Du auch die Kraft dafür.“ Also packe ich ihn in das Netz vorne am Rucksack und schleppe uns beide weiter den Berg
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