5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
er, ein Geheimnis zu ergründen. Sein Gefühlsausbruch hatte sie ebenso überrascht wie die Tatsache, dass seine Gedanken offenbar noch immer um ihre Cousine kreisten.
„Ruggiero war eigentlich der Beste, wenn du verstehst, was ich meine. Nein, das tust du
wahrscheinlich nicht“, hatte Freda einmal mit dem Baby auf dem Arm zu ihr gesagt.
„Um Vergleiche anzustellen, fehlt mir deine Erfahrung“, hatte Polly betont gleichgültig erwidert. „Glaub mir, er war im Bett einsame Klasse.“ Freda hatte laut aufgelacht. „Jede Frau sollte sich einen italienischen Liebhaber zulegen. Sie sind so leidenschaftlich und temperamentvoll wie keine anderen Männer.“ Die Kälte in ihrer Stimme hatte Polly schaudern lassen. Freda hatte sich genommen, was sie hatte haben wollen. Sie hatte Ruggieros Geschick und seine Erfahrung geschätzt, sonst nichts. Obwohl sie so clever gewesen war, war ihr nicht aufgefallen, was für ein wertvoller und
faszinierender Mensch Ruggiero in Wirklichkeit war und dass er seinen wahren Charakter nicht zeigte, so als sollte niemand wissen, wie feinfühlig er war. Und er konnte gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartete, über sich selbst lachen. Er steckte voller Widersprüche, und es wäre eine echte Herausforderung für eine Frau zu versuchen, ihn zu verstehen. Das alles war Freda entgangen, vielleicht hatte es sie auch gar nicht interessiert.
Ich habe sofort gespürt, dass er ganz anders ist, als Freda ihn beschrieben hat, doch ich wollte es nicht wahrhaben, dachte Polly. Jetzt war bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu verlieben. Sie war hier, um ihn zu pflegen. Das war alles.
Sicher war es ungeschickt gewesen anzudeuten, dass seine Angebetete nicht die Frau gewesen war, für die er sie gehalten hatte. Er war noch nicht bereit, sich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen. Er hatte Sapphire geliebt, und möglicherweise war ihm erst jetzt bewusst geworden, wie sehr. Ich muss ihn trösten, sagte sie sich und wollte zu ihm gehen. Sie überlegte es sich jedoch anders und setzte sich ans Fenster. Ruggiero wollte allein sein in seinem Schmerz. Die Erkenntnis ließ sie schaudern, und sie wünschte, sie könnte ihm helfen. Er sehnte sich jedoch nach einer anderen Frau.
In den frühen Morgenstunden klopfte es zaghaft an ihre Tür – Ruggiero stand im Morgenmantel davor. Sein Ärger war ganz offensichtlich verflogen, er wirkte nur noch müde und erschöpft. „Kommen Sie herein“, forderte Polly ihn ruhig auf.
Er rührte sich jedoch nicht von der Stelle, sondern blickte sie leicht verzweifelt an.
„Was ist los? Kann ich etwas für Sie tun?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich …“
„Warum treten Sie nicht ein und reden darüber?“
Unsicher sah er sie an. Sein Selbstbewusstsein war erschüttert, und damit konnte er nicht umgehen. Schon als er Polly weggeschickt hatte, hatte er geahnt, dass er sie zurückholen würde. Er ärgerte sich über sie, hasste sie sogar manchmal, doch gegen seinen Willen fühlte er sich zu ihr hingezogen. „Kommen Sie, lassen Sie uns reden.“ Sie packte ihn am Arm und zog Ruggiero in das Zimmer. Man sah ihm an, wie unbehaglich er sich nun fühlte, als er sich auf das Bett setzte. „Ich muss mich fü r alles Mögliche entschuldigen.“
„Ach, vergessen Sie es“, antwortete sie. „Sie standen unter Schock.“
„Ja, aber ich hätte es nicht an Ihnen auslassen dürfen.“
„Es ist vorbei und vergessen.“
„Danke, Polly. Habe ich wirklich einen Sohn? Um mir das zu sagen, sind Sie doch hier, nicht wahr? Und es war auch kein Zufall, dass wir uns begegnet sind?“
„So ist es. Ich hatte eigentlich vor, gleich zur Villa Rinucci zu fahren, bis ich in einer Zeitung den Artikel über die Hochzeit Ihres Bruders entdeckte. Darin wurden unter anderem Ihre Firma und die Rennstrecke erwähnt, wo Sie die Motorräder testen. Kurz entschlossen bin ich zuerst dorthin gefahren. Ich wollte in Ihrer Nähe sein, um einen günstigen Augenblick für mein Gespräch mit Ihnen abzupassen. Dann geschah dieser Unfall.“ Sie machte eine hilflose Handbewegung.
Er nickte. „Wenn ich an Ihren prüfenden Blick denke, wird mir noch immer ganz anders.“ „Als Krankenschwester ist es meine Pflicht, Patienten genau zu beobachten.“
„Haben Sie nicht vielmehr daran gedacht, was Ihre Cousine Ihnen über mich erzählt hat, und sich gefragt, wieso ausgerechnet ich der Vater ihres Sohnes sein soll?“ Seine Stimme klang so ironisch, dass es Polly den Atem
Weitere Kostenlose Bücher