5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
Nachttischlampe an, setzte sich neben Polly auf das Bett und schlug das Fotoalbum auf, das er mitgebracht hatte.
„Hier.“ Er wies auf die Vergrößerung eines Hochzeitsfotos, auf dem der Bräutigam im Gegensatz zu allen anderen Bildern klar und deutlich zu erkennen war. Es enthüllte auch, dass der Mann um die dreißig Jahre älter war als Freda, mehrere Kilo Übergewicht hatte und völlig unattraktiv war.
Das war jedoch offensichtlich nicht das Ausschlaggebende für Ruggieros Reaktion, denn das Aussehen hatte ja nichts mit dem Charakter zu tun. George Ranley hingegen war nicht nur hässlich, er wirkte schmierig, selbstzufrieden und durch und durch unsympathisch.
„Sehen Sie sich Ihre Cousine genau an.“ Er wies auf die Braut, die den Bräutigam liebevoll und bewundernd anblickte. „Sie scheint ihn sehr zu lieben.“
„Ja“, erwiderte Polly vorsichtig.
„Diesen schrecklichen Typ?“ Er wies verächtlich auf George. „Er ist einfach widerlich, trotzdem blickt sie ihn an, als wäre er ein Halbgott.“
„Es war ihre Hochzeit. Von der Braut erwartet man doch …“ Polly verstummte.
„Sie war eine perfekte Schauspielerin“, erklärte er. „Zu gern wüsste ich, was sie in dem Moment wirklich gedacht hat und was in ihr vorgegangen ist, als sie auch mich so angesehen hat.“ Polly schwieg. Was hätte sie sagen sollen?
„Dieselbe Miene und dasselbe Lächeln hatte sie auch für mich aufgesetzt, und ebenso diesen strahlenden Blick“, fuhr Ruggiero nach einer Weile mit schmerzerfüllter Stimme fort. „Jeder Mann hätte geglaubt, sie sei völlig vernarrt in ihn, während sie sich wahrscheinlich ins Fäustchen gelacht und sich gesagt hat: ‚Den armen Trottel habe ich genau da, wo ich ihn haben will.‘“
Natürlich hatte Polly sich gewünscht, er würde endlich die Wahrheit erkennen. Jetzt war es so weit, und sie konnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen.
„Ich nehme an, er hatte sehr viel Geld“, fügte er beinah gleichgültig hinzu.
„Er war Multimillionär.“
„Und der Schmuck, den sie trägt? Alles echte Diamanten?“
„Ja. George hatte sie von seiner dritten Frau zurückverlangt.“
„Von seiner dritten …?“
„Meine Cousine war seine vierte.“
„Erzählen Sie mir den Rest auch noch. Und beschönigen Sie bitte nichts.“
„Er hatte sich verzweifelt einen Sohn gewünscht, und keine seiner Partnerinnen war schwanger geworden. George wollte sich nicht eingestehen, dass es wahrscheinlich an ihm lag, und hat sich jedes Mal scheiden lassen. Freda wollte jedoch keine Trennung. Als er für zwei Wochen geschäftlich unterwegs war, ist sie nach London gefahren in der Absicht, sich einen Mann für eine kurze Affäre zu suchen, um schwanger zu werden und ihrem Mann das Kind unterzuschieben.“
„Dort durchstreifte sie dann die Bars und hielt nach einem geeigneten Kandidaten Ausschau“, stellte er verbittert fest. „Warum ist die Wahl ausgerechnet auf mich gefallen?“
„Weil George, als er noch keine Glatze hatte, beinah genauso schwarzes Haar hatte wie Sie. Ein weiterer Pluspunkt war, dass Sie bald nach Italien zurückfliegen würden.“
Ruggiero zuckte insgeheim zusammen und fragte erst nach längerem Schweigen mit leiser Stimme: „Sie hat sich nie etwas aus mir gemacht, stimmt’s? Sagen Sie mir die Wahrheit, Polly.“
„So ist es vermutlich.“
„Sie hat mich nur benutzt“, stellte er langsam fest. „Nachdem sie erreicht hatte, was sie wollte, war ich für sie uninteressant. All das Rätselhafte, Geheimnisvolle, das so exotisch und romantisch wirkte, diente einem einzigen Zweck: Sie wollte sicherstellen, dass ich ihr das Konzept nicht verdarb und ihr nicht folgen konnte.“
„Es tut mir leid, aber so war es.“
Plötzlich stieß er ein hartes, verbittertes Lachen aus. Dann ließ er sich auf das Bett sinken und hörte nicht mehr auf zu lachen, bis Polly sich ernsthaft Sorgen machte.
„Was ist so lustig an der Sache?“, fragte sie und beugte sich über ihn.
„Alles“, antwortete er. „Was war ich für ein Idiot. Ich habe etwas gesucht, das gar nicht existiert.“ Er packte Polly an den Schultern und sah sie an. „Als sie verschwand, habe ich sie überall gesucht. Ich habe alle möglichen Leute gefragt, sie immer wieder beschrieben, in vielen Hotels habe ich nachgefragt, aber niemand kannte sie. Ich habe mich vernachlässigt, mich nicht mehr rasiert, und am Ende der Woche sah ich sehr heruntergekommen aus. Außerdem habe ich nichts gegessen, denn das hätte
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