5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
her durch den Gang und zurück in den Festsaal des Grafen. Er hörte, wie sie neben ihm nach Luft schnappte und würgte. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens. Er hatte es nicht so schlimm in Erinnerung. Der Marmorboden war mit Blut besudelt, über den gesamten Raum verstreut lagen Leichenteile. Evrèl erblickte den leblosen Körper einer Frau, die mit dem Rücken gegen den Brunnen in der Mitte des Saals lehnte. Ihre Augen waren geöffnet, das Kleid unterhalb ihrer linken Brust zerfetzt. Eine tiefe Wunde klaffte zwischen ihren Rippen, der feine Brokatstoff ihrer Corsage war mit Blut getränkt. Evrèls Artgenossen hatten die Gelegenheit genutzt, um sich satt zu essen. Evrèl hingegen hatte sich einzig auf seinen Auftrag konzentriert, den er gewissenhaft und gründlich erfüllt hatte. Ein Schauer lief ihm angesichts seiner eigenen Kaltblütigkeit über den Rücken.
»Mon Dieu!«, stieß Émine atemlos hervor.
»Sieh nicht hin«, zischte Evrèl durch seine zusammengepressten Zähne. Émine schluchzte, sagte jedoch nichts mehr. Sie machte keinerlei Anstalten mehr, gegen seine Führung anzukämpfen, und rannte einfach hinter ihm her, dennoch hielt Evrèl ihren Arm nach wie vor fest umklammert.
Schon von Weitem sah er, dass die große Flügeltür, die den Weg in die Freiheit markierte, sperrangelweit offen stand und sich Menschen auf der Vordertreppe tummelten. Evrèl zögerte keinen Moment. Er stürzte durch die Öffnung ins Freie, stieß mit einem Mann zusammen und rannte ungeachtet seiner Flüche und Rufe einfach weiter. Es waren Wachmänner der Gendarmerie. Also hatte man bereits Wind von dem Verbrechen bekommen. Es hätte wohl nur noch Augenblicke gedauert, ehe man sie im gläsernen Garten gefunden hätte. Von dem Asravir, der sie vom Salon aus beobachtet hatte, fehlte indes jede Spur.
»Haltet sie auf!«, rief eine männliche Stimme hinter ihnen. Evrèl drehte sich nicht um, dennoch wusste er, dass die Wachmänner ihnen auf den Fersen waren. Ihre donnernden Schritte hallten durch die Nacht.
Er steuerte auf den Pont Marie zu, der sie ans rettende Ufer bringen würde. Er kannte sich in den Gassen von Paris besser aus als manch ein Edelmann in seinem eigenen Palast. Wenn es ihm gelang, die Gendarmen abzuschütteln, wären sie vorerst in Sicherheit – zumindest so lange, bis die Asraviri sie fanden.
»Pass auf die Pferde auf!«, rief Émine hinter ihm, doch es war zu spät. Evrèl war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er die Kutsche nicht bemerkt hatte, die auf der Brücke vor ihnen aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht war. Die beiden schneeweißen Pferde scheuten, stiegen und tänzelten dann zur Seite, sodass die Kutsche umkippte und den Weg über die Brücke versperrte. Evrèl stieß ein Knurren aus. Er griff um Émines Taille, hob sie sich über die Schulter und vollführte einen tollkühnen Sprung auf die schmale Brüstung der Brücke. Émines voluminöses Kleid behinderte seine Sicht, und er fluchte. Ihre Schreie gellten durch die Nacht. »Du bringst uns um!«
Evrèl ging nicht auf ihre Proteste ein. Glücklicherweise strampelte Émine nicht, sodass ihnen ein Sturz in die stinkende Seine erspart blieb.
Er balancierte über die Balustrade, die gerade einmal eine Hand breit war. Er hörte die Gendarmen, die mittlerweile die Kutsche erreicht hatten und verzweifelt versuchten, sich an den zwei scheuenden Pferden vorbeizudrängen, hinter ihnen fluchen und schimpfen.
Evrèl sprang auf der anderen Seite der Kutsche vom Geländer auf die Brücke zurück, stieß ein hämisches Lachen aus und setzte Émine zurück auf ihre Füße. Sie rang nach Atem. »Komm, wir müssen weiter«, sagte er.
»Wohin gehen wir?«
»Möglichst weit weg vom Grünen Heim .«
»Wie bitte?« Émines Stimme kippte vor Empörung, ihre Wangen färbten sich rötlich. Evrèl hatte weder Lust noch Zeit für lange Erklärungen, deshalb ergriff er erneut ihren Arm und zerrte sie in die Nacht der Pariser Innenstadt. Diesmal folgte Émine ihm nicht ganz so bereitwillig, wie sie es im Haus des Grafen getan hatte. Unter Protestbekundungen ließ sie sich mitziehen wie ein störrischer Hund, der noch nicht gelernt hatte, die Leine zu akzeptieren.
»Ich möchte nach Hause.« Émines Tonfall war anklagend und zeugte von einer Mischung aus Angst, Verärgerung und Missmut.
»Vertraue mir einfach.«
Evrèl tauchte in das Netz aus Gassen, Alleen und unbeleuchteten Straßen ein, das ganz Paris durchzog und jeden verschlang, der den Weg zu
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