5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
seinem Ziel nicht genauestens kannte. Die Rufe der Wachmänner hinter ihnen waren längst verstummt. Nur entlang der Hauptstraßen gab es hohe Masten, an denen man Öllampen befestigt hatte, welche die ganze Nacht hindurch brannten. Evrèl bezweifelte, dass die Vertreter des Gesetzes über eine derart gute Kenntnis des Straßennetzes verfügten, dass sie sich auch in völliger Dunkelheit zurechtfanden. Seine Augen hingegen begnügten sich mit dem schwachen Licht des Mondes und der Sterne.
Paris bei Nacht war kein Ort, an den man eine hübsche Frau für einen Spaziergang ausführte. Allerhand nachtaktives, sich im Abfall suhlendes Getier kroch mit dem Verschwinden der letzten Sonnenstrahlen aus seinen Löchern, und diese Beschreibung galt nicht allein den vierbeinigen Vertretern. Ratten waren mitunter das kleinste Problem, mit dem sich ein lebensmüder Nachtschwärmer auseinandersetzen musste. Der König war zwar stets bemüht, mit harter Hand gegen den von Armut und Groll gezeichneten Pöbel, der in den letzten Jahren immer aufsässiger geworden war, vorzugehen, doch gegen das Verbrechen im Pariser Untergrund war noch kein Kraut gewachsen. Nicht einmal die Androhung einer Haftstrafe in den Kellern der Bastille vermochte etwas gegen die zunehmende Kriminalität auszurichten.
Evrèl zog Émine in eine Seitengasse hinein, deren ausgetretenes Kopfsteinpflaster im Mondlicht glänzte. Die Häuserwände waren fensterlos, lediglich ein dunkler Hauseingang, der schon seit Jahren nicht mehr genutzt wurde, durchbrach das Mauerwerk. Evrèl hatte sich hier in der Vergangenheit oft an seinen Opfern gelabt. Es war eine abgeschiedene Gegend, in die sich nicht einmal der Mob verirrte.
Émine rang nach Atem. Es war an der Zeit, das Tempo ein wenig zu drosseln. Er durfte nicht vergessen, dass sie in einem menschlichen Körper steckte und nicht mit einem Asravir mitzuhalten vermochte.
Evrèl ließ ihren Arm los. Émine presste sich beide Hände auf die Leiste. »Es sticht«, stieß sie atemlos hervor. Er schlang seine Arme um sie und zog sie zu sich heran. Er verspürte das Bedürfnis, sie zu beschützen. Den Kampf gegen seinen eigenen Vorsatz hatte er längst verloren und sich unwiderruflich für eine Seite entschieden, als er ihr Liebesspiel im Wintergarten des Grafen zugelassen hatte. Jetzt musste er die Konsequenzen tragen.
»Es tut mir leid, dass ich dich so grob angefasst habe«, sagte er und strich mit den Fingern die Linie ihrer Arme nach. »Aber wir müssen die Stadt verlassen, so schnell wie möglich.«
Émine löste sich aus seiner Umarmung und warf ihm einen anklagenden Blick zu. »Ich muss zu Jacques zurück. Ich kann doch nicht einfach so weglaufen.« Sie machte eine Pause, sah zu Boden und schniefte. »Und erst recht nicht in diesem Körper.« Ihre Stimme brach, und ihre Mundwinkel zitterten, als unterdrücke sie ein Schluchzen. Sie war so atemberaubend schön in ihrem prächtigen Kleid, selbst im Körper eines Menschen. Evrèl hätte nicht den Hauch einer Chance gehabt, ihr zu widerstehen. Ein Asravir war eben schwach und leicht zu verführen.
Evrèl hatte den Punkt beinahe erreicht, an dem er ihr die ganze Wahrheit sagen würde. Die Art, wie sie dastand – zerbrechlich und blass – , rüttelte an seiner Fassade. Er öffnete den Mund, um zu einer langen Erklärung anzusetzen, doch in diesem Moment hörte er leise Schritte am Ende der Gasse. Émine erweckte nicht den Eindruck, etwas gehört zu haben, denn sie stand nach wie vor mit gesenktem Kopf vor ihm und weinte leise.
Evrèl riss den Kopf hoch und lauschte in die Nacht hinein. Von beiden Seiten der Gasse vernahm er nun schlurfende Schritte. Die Haare auf seinen Armen sträubten sich. Geistesgegenwärtig stieß er Émine in den dunklen Hauseingang hinein. Sie stolperte und stieß einen spitzen Schrei aus. »Psst, sei still«, presste Evrèl hervor.
Nur einen Herzschlag später sprang ihn etwas von hinten an. Er taumelte ein paar Schritte nach vorn und prallte gegen die Mauer. Ein unirdisches Knurren drang an seine Ohren. Er fuhr herum und blickte in die rot glühenden Augen von L é once, einem Asravir, den Evrèl bei einer ihrer geheimen Zusammenkünfte schon einmal gesehen hatte. Er kannte ihn nicht besonders gut und hatte nie mit ihm gesprochen.
Zwei weitere Asraviri tauchten hinter ihm aus den Schatten der Gasse auf. Die Krallen, die aus den Handrücken von L é once ragten, waren lang und scharf. Er war ein ausgewachsenes und erfahrenes Exemplar seiner
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