5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
aufeinander und verharrten in dieser Position. L é onces Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die von der Anstrengung zeugte, die ihm das Kräftemessen bereitete. Auch Evrèl hatte alle Mühe, die Hände seines Gegners auf Abstand zu halten. Seine Muskeln zitterten, und ein Tropfen Schweiß löste sich von seinem Kinn. Der Schmerz in seiner Brust schwächte ihn zusätzlich, und er befürchtete, dass die Muskeln in seinen Armen schon bald nachgeben würden. Er starrte auf die langen Krallen von L é once, deren Spitzen bedrohlich auf sein Gesicht gerichtet waren. Seine rot glühenden Augen warfen im Dunkel der Nacht einen schwachen Lichtschein auf die glänzenden, tödlichen Waffen, die aus seinen Handrücken ragten.
»Cistien, hol das Mädchen!«, presste L é once hervor. Erst jetzt erinnerte sich Evrèl an die Anwesenheit des anderen Asravirs, der eine Zeit lang nur danebengestanden und zugesehen hatte, wie L é once und Evrèl sich duellierten.
»Émine!« Evrèl presste ihren Namen hervor, obwohl er vor Anstrengung kaum in der Lage war zu atmen. Eine Welle der Verzweiflung durchflutete ihn, denn er konnte ihr nicht helfen, solange L é once ihn in Schach hielt. Im Augenwinkel beobachtete Evrèl, wie Cistien in den dunklen Hauseingang sprang. Evrèl spürte, dass er dabei war, den Kampf zu verlieren. In einem Akt der Verzweiflung ließ er seine Muskeln jäh erschlaffen, drehte sich zugleich zur Seite und tauchte unter dem massigen Körper von L é once hinweg, der mit dem abrupten Nachlassen des Drucks nicht gerechnet hatte und nach vorne stolperte. Er stieß sich den Kopf hart an der Mauer.
»Das Mädchen ist weg!«, rief Cistien im selben Augenblick. »Sie ist abgehauen!«
L é once, der noch immer benommen an der Wand lehnte, zeigte keine Reaktion, doch Evrèl dankte den Engeln, dass Émine entkommen zu sein schien. Sie war für den Augenblick in Sicherheit, auch wenn die Asraviri mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen würden, sie zu finden und ihren teuflischen Plan doch noch in die Tat umzusetzen. Sie waren bereits zu weit gegangen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Der Tod des Grafen war nur ein Puzzleteil im Geflecht ihrer durchtriebenen Machenschaften gewesen.
Evrèl wusste die augenblickliche Verblüffung seiner Gegner zu seinem Vorteil zu nutzen und setzte sich in Bewegung. Fünf große Schritte und er hatte das Ende der Gasse erreicht. An einem der Häuser führte eine schmale Metallleiter an der Fassade hinauf aufs Dach. Evrèl erklomm die Wand und rannte ungeachtet seiner Schmerzen über die Dächer von Paris, die im schwachen Mondlicht glänzten.
»Émine! Émine!« Seine Rufe gellten durch die Nacht.
6
Die wenigen Geräusche, die die dunkle Nacht durchschnitten, wirkten in der völligen Stille so laut wie Peitschenhiebe: ihre klappernden Absätze auf dem Straßenpflaster, ihre flachen Atemzüge, der seichte Sommerwind, der durch die Äste der Büsche am Straßenrand strich. Émines Füße schmerzten in den engen hochhackigen Schuhen, die ihr bereits seit vielen Stunden ins Fleisch schnitten und die sie am liebsten schon im Haus des Grafen abgestreift hätte. Doch sie ignorierte ihre Schmerzen und rannte ziellos weiter durch die schmalen Gassen von Paris.
Ein weiteres Geräusch mischte sich unter das monotone Klappern ihrer Absätze. In weiter Ferne vernahm Émine eine Stimme, die ihren Namen rief. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Evrèl. Der Mann, der sie über zwanzig Jahre lang zum Narren gehalten und ihr weisgemacht hatte, er sei ein Mensch. Der Schmerz in ihrer Brust war überwältigend, er schnürte ihr die Kehle zu und raubte ihr den Atem. Sie hatte ein Monster geliebt. Ein Monster, das sie betrogen, ausgenutzt und am Ende verführt hatte.
Tränen stiegen ihr in die Augen und verschleierten die Sicht, bis sie kaum noch in der Lage war, ihre eigenen Füße zu erkennen. Doch es war einerlei, ob sie etwas sah oder nicht, denn sie kannte sich in dieser Gegend ohnehin nicht aus. Die Häuser und Straßen breiteten sich gleichförmig vor ihr aus wie ein Teppich, dessen Muster sich immerzu wiederholte. Sie hatte vollkommen die Orientierung verloren.
»Émine!« Wieder erklang seine Stimme, und wieder spürte sie diesen Stich in der Brust. Er durfte sie nicht finden, niemals wieder wollte sie in seine dunklen Augen sehen, die es so geschickt verstanden hatten, sie zu täuschen. Émine wusste nicht,
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