5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
welch hinterlistiges Spiel Evrèl und die anderen Ungeheuer mit ihr spielten, aber sie war sich sicher, dass Evrèls Auftauchen im Haus des Grafen nicht dem Zufall zu verdanken war. Er selbst hatte zu den Attentätern gehört, die mehr als ein Dutzend Leben ausgelöscht hatten, da war Émine sich nun sicher. Sie war froh darüber, ihnen unbemerkt entkommen zu sein, doch noch immer war die Gefahr allgegenwärtig. Hinter jedem dunklen Fenster, das sie aus einem schwarzen Loch anzustarren schien wie ein Auge, vermutete sie einen Asravir, der sich jederzeit auf sie stürzen und sie töten konnte.
Ein Schluchzen entrann ihrer Kehle, sie wischte sich mit dem Handrücken über das tränennasse Gesicht. Immer wieder schoben sich Bilder vor ihr geistiges Auge, in denen sie Evrèl vor sich sah, groß, muskulös und – hässlich. Schwarze Krallen, so lang wie sein Unterarm, ragten aus seinen Händen wie die Verlängerung eines Armes. In ihrer Vorstellung klebte Blut an ihnen.
Eine Woge der Übelkeit stieg in Émine auf. Sie unterdrückte den Ekel, den sie bei dem Gedanken an Evrèl empfand. Sie hatte ihn geliebt, sie hatte sich von ihm berühren lassen. Nie hatte sie geglaubt, dass ein menschliches Herz so großen Schmerz zu ertragen imstande war, ohne daran zu zerbrechen. Émine verfluchte ihren Körper. Die Gefühle eines Eluvirs waren weniger tief, weniger unerträglich als die eines Menschen. Sie hatte endloses Glück, aber auch endloses Leid erfahren.
Die Glocken von Notre-Dame schlugen zwölf Mal. Émine riss den Kopf herum. Der Wind trug das Geräusch von Osten her an ihre Ohren. Das Grüne Heim befand sich nördlich von Notre-Dame , am Stadtrand von Paris. Es war noch ein weiter Weg, aber zumindest wusste sie nun in etwa, in welche Richtung sie gehen musste.
»Émine!« Sie zuckte zusammen, denn die Stimme war nun lauter als zuvor. Er war ganz in ihrer Nähe.
»Émine!« Sie hielt die Luft an, als jemand direkt vor ihr aus einer schmalen Gasse auftauchte, auf sie zukam und sich langsam aus der Dunkelheit schälte. Das schwache Licht einer Straßenlaterne warf groteske Schatten auf das Gesicht des Mannes.
»Jacques, du bist es!« Émines Stimme brach. Sie rannte auf ihn zu, breitete die Arme aus und presste sich eng an den alten Mann, der geräuschvoll die Luft zwischen seinen Zähne einsog.
»Du tust mir ja weh«, presste er hervor, jedoch ohne einen anklagenden Unterton in der Stimme. Sanft löste er die Umarmung und musterte Émine von oben bis unten. »Ich habe dich überall gesucht. Ich habe mir Sorgen gemacht, als der Kutscher ohne dich zurückkam und mir von den schrecklichen Ereignissen berichtete«, sagte er.
»Oh Jacques, ich bin so froh, endlich wieder ein freundliches Gesicht zu sehen.« Die Erleichterung wärmte Émine von innen und milderte für den Augenblick das Gefühl von Angst und Kummer.
»Ich bin sofort zum Palast des Grafen gefahren«, fuhr Jacques fort. Er wirkte müde, tiefe Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht gegraben. »Dort habe ich mit den Gendarmen gesprochen. Sie sagten, du seiest mit einem Mann aus dem Haus geflüchtet. Weshalb hast du dich nicht in deine unverwundbare Engelform verwandelt?«
Ein neuer Schwall heißer Tränen rann Émines Wangen hinab. »Es geht nicht mehr.« Sie machte eine Pause und wartete, bis sie ihrer Stimme wieder trauen konnte. »Der Graf ist mit dunkler Magie im Bunde. Er hat mich verletzt. Ganz Paris wimmelt von schrecklichen Monstern.«
Jacques klopfte ihr sanft auf die Schulter. Über seine Züge huschte ein reumütiger Ausdruck. »Es ist meine Schuld. Ich habe dich dorthin geschickt. Ich habe die Gefahr nicht erkannt.«
Émine schüttelte vehement den Kopf. »Dich trifft keine Schuld. Aber bitte, Jacques, lass uns nach Hause gehen. Es muss eine Möglichkeit geben, meine alte Gestalt zurückzuerlangen.«
Jacques lächelte und nickte. »Das ist eine gute Idee. Du hast viel durchgemacht. An der Brücke zur Île Saint-Louis wartet eine Kutsche, die uns zum Grünen Heim zurückbringen wird.«
Émine hakte sich bei ihrem Mentor unter und ließ sich von ihm durch die Straßen führen. Es war, als fiele eine Last von ihr ab. Sie verbot sich jeden Gedanken an Evrèl und die Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte.
Als sie mit Jacques in der Kutsche saß, stellte Émine sich einen Moment lang die Frage, weshalb er sich nicht nach der Identität des unbekannten Mannes erkundigt hatte, mit dem man Émine aus dem Palast hatte flüchten sehen. Sie
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