5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
mehrere Dinge zugleich. Ein verzweifelter Schrei voller Liebe und Schmerz drang an Émines Ohren, während Jacques einen Sprung nach vorn machte. Seine Schulter prallte gegen die Brust von Evrèl, der einen Moment lang taumelte und dann das Gleichgewicht verlor. Einen Lidschlag später war er hinter der Dachkante verschwunden, nur sein Schrei hallte noch nach, während er in die Tiefe stürzte. Émine sprang auf und rannte zu der Stelle, an der Evrèl in der Dunkelheit verschwunden war. In diesem Moment war sie fest entschlossen, sich hinterherzustürzen, doch mehrere Hände griffen nach ihren Haaren, zogen an ihrer Kleidung und rissen sie zu Boden.
»Machen wir weiter!«, rief Jacques seinen Artgenossen zu, als sei nichts geschehen. Seine Stimme war kalt und emotionslos, es schien ihn nicht zu kümmern, dass zwei Asraviri vor seinen Augen gestorben waren. Jules’ Leiche lag noch immer in einer unnatürlichen Verdrehung auf dem Boden des Daches. Die Asraviri stiegen achtlos über sie hinweg.
Jemand hob den Kelch vom Boden auf, ein anderer Asravir entfaltete erneut das Stück Papier, das Jacques angeblich zwischen den alten Schriften in der Bibliothek des Grünen Heims entdeckt hatte. Er umfasste Émines Hals und drückte seine Klaue gegen ihre Kehle. Hätte Émine eine Waffe zu fassen bekommen, hätte sie sich selbst, ohne zu zögern, getötet. Sie wollte nicht, dass die Brut der gefallenen Engel sie für einen schwarzen Zauber missbrauchten. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als Evrèl in den Tod zu folgen. Er hatte sie beschützen wollen, während sie ihrem Verderben geradewegs in die Arme gelaufen war. Weshalb hatte sie nie bemerkt, dass Jacques kein Mensch, sondern eine Bestie war? Vermutlich hatte er all die Jahre auf eine Nacht wie diese gewartet, in der er Émine die Unsterblichkeit stehlen konnte. Der Zauber des Grafen, der Émines Körperlosigkeit aufgehoben hatte, war Teil eines perfiden Plans gewesen, der sogar die Ermordung seines eigenen Verbündeten und dessen hochrangiger Gäste beinhaltet hatte. Diese Gedanken schossen Émine durch den Kopf, als sie einen kurzen scharfen Schmerz unterhalb ihrer Kehle verspürte. Ein warmer Tropfen Blut rann in ihren Ausschnitt hinab. Evr è l, ich habe dir unrecht getan . Verzeih mir . Sie wollte ihren letzten Gedanken nicht an Jacques und seine finsteren Machenschaften verschwenden, sie wollte ihn Evrèl widmen …
Émine erwartete den Tod, doch sie wurde erneut betrogen. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, nahm sie durch die Lider hindurch ein gleißend helles Licht wahr. Der Druck der Kralle an ihrem Hals ließ ein zweites Mal nach. Émine wollte die Augen öffnen, doch das Licht war so hell, dass es schmerzte. Sie konnte weder Position noch Ursprung der Lichtquelle ausmachen, denn es schien überall um sie herum zu sein. Sie warf sich bäuchlings auf den Boden und schützte ihren Kopf mit darüber verschränkten Armen.
Ein schmerzverzerrter Schrei, in den weitere heulende Stimmen einfielen, jagte Émine einen Schauer über den Rücken. Die Hände, die sie zuvor festgehalten und zu Boden gedrückt hatten, ließen von ihr ab.
Émine vernahm einen dumpfen Aufschlag neben sich. Sie hörte Kleidung rascheln und Fäuste auf Stein schlagen. Es waren die Geräusche eines Asravirs, der, von Höllenqualen gepeinigt, mit dem Tode rang. Émine verspürte keine Schmerzen. Es gab nur dieses helle Licht, das sie davon abhielt, die Augen zu öffnen.
Der Boden vibrierte, und die Luft war von knisternder Magie erfüllt, die in jede Faser ihres Körpers zu fahren schien. Die Müdigkeit fiel von ihr ab wie ein Kleidungsstück, das man abstreifte und achtlos zu Boden gleiten ließ. Wärme und Kraft kehrten in ihre Glieder zurück, sie fühlte sich leicht und körperlos. Émine wagte noch immer nicht, ihre auf dem Boden kauernde Position zu verändern, doch sie war sich sicher, dass von dem göttlichen Licht keine Gefahr für sie ausging. Sie hatte nie zuvor erlebt, wie einer der Vier Heiligen auf die Erde hinabgestiegen war, doch sie spürte seine Anwesenheit, seine Nähe und die Vertrautheit seines Blutes, auch ohne ihn zu sehen.
»Danke«, wimmerte Émine, ohne den Blick zu heben.
Ich bin für dich da. Es waren keine Worte, mehr ein Gefühl, das Émine durchdrang und ihr Bewusstsein flutete. Sie hatte den Gedanken des Engels, der ihr das Leben gerettet hatte, klar und deutlich vernommen, als hätte er ihr die Worte direkt ins Ohr geflüstert.
Die Schreie erstarben,
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