5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
und Stille legte sich über das Dach des Grünen Heims . Das göttliche Licht erlosch so plötzlich, wie es gekommen war. Dunkelheit umhüllte sie wie ein Mantel aus schwarzer Seide. Émine stemmte ihren Oberkörper mit den Händen hoch. Sie sah auf ihre Finger hinab: Sie waren durchscheinend und weiß wie dünnes Papier. Nur vage spürte sie den kalten Stein unter ihren Handflächen. Ihre Empfindungen und Sinneswahrnehmungen waren wieder die eines Eluvirs: schwach und lau wie ein Windhauch.
Sie ließ den Blick über das Dach schweifen. Vier der fünf Asraviri lagen mit verkrümmten Körpern um sie herum über den Boden verteilt, einer von ihnen war vermutlich vom Dach hinuntergefallen. Sie waren nicht tot. Émine beobachtete, wie sich ihre Brustkörbe in unregelmäßigen Abständen hoben und senkten. Aus der Kehle von Jacques drang ein leises Ächzen, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Seine weit aufgerissenen Augen starrten ins Leere und zuckten wild hin und her, als versuchten sie verzweifelt, einen Punkt ihrer Umgebung zu fixieren.
Émine erhob sich. Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Beine zitterten, doch ihr Engelskörper kannte derlei körperliche Reaktionen nicht. Allzu schnell hatte sie sich an ihren menschlichen Körper gewöhnt.
Sie öffnete die Klappe im Boden und stieg die schmale Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ein einziger Gedanke zwang sich ihr auf und ließ ihre Füße beinahe wie von selbst über den Boden schweben: Was war mit Evrèl geschehen? Hatte er überlebt? Obwohl ihr Dasein als Eluvir tiefe Gefühle nicht zuließ, hatte sie Evrèl seit dem Tag geliebt, an dem er zu einem Mann herangewachsen war. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Gefühle noch immer tief und echt waren. Nicht einmal ihre Rückverwandlung in einen Halbengel hatte etwas daran ändern können.
Im Erdgeschoss stieß Émine die Eingangstür auf und rannte um das Haus herum. Dabei stolperte sie beinahe über die Leiche des Asravirs, der wie Evrèl vom Dach gefallen war. Eine Blutlache hatte sich unter ihm gebildet, seine Beine standen in einem unnatürlichen Winkel von seinem Körper ab. Der Anblick schockierte Émine und bereitete sie auf das Schlimmste vor.
Evrèl lag nur wenige Schritte von seinem Artgenossen entfernt neben einem Holundergebüsch, dessen Äste größtenteils abgeknickt waren. Er lag auf dem Rücken, seine Augen waren geschlossen. Sein Körper war mit kleinen Holunderblüten übersät, das Gesicht wirkte entspannt. Er war in den Strauch gefallen, der ihn davor bewahrt hatte, auf den harten Steinboden aufzuschlagen.
Evrèls Hände lagen neben seinem ausgestreckten Körper. Die Spuren der Metamorphose waren nicht mehr sichtbar, auch entdeckte Émine keine äußeren Anzeichen einer tödlichen Verletzung. Lediglich der Schnitt über seiner Brust zeugte von dem Kampf, den Evrèl an diesem Abend in den Pariser Gassen bestritten hatte, um Émine vor seinen eigenen Artgenossen zu bewahren. Ein friedvoller Gesichtsausdruck lag auf seinem Gesicht. Man konnte fast meinen, er schliefe.
Émine ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Sie verfestigte ihre Gestalt und tastete mit der Hand an seinem Hals entlang. Er fühlte sich warm an. Ganz schwach erahnte sie einen unregelmäßigen Puls, und sofort begann ihr eigenes Herz, in einem wilden Rhythmus gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Er lebte! Er hatte den Sturz überlebt! Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. Ein Schwall heißer Tränen vermischte sich mit frischem Blut. Émine wusste, dass ein Eluvir nicht imstande sein sollte, zu weinen, doch sie war nach wie vor in der Lage, den Schmerz und die Freude zu empfinden, die eigentlich nur den Menschen vorbehalten waren. Ihre Seele erinnerte sich an Evrèl und krallte sich an ihm fest, als wollte sie einen Teil ihrer selbst in der Welt der Menschen halten. Sie war nicht vollständig in einen Eluvir zurückverwandelt worden, ihre Liebe zu Evrèl hatte sie sich bewahrt.
Émine richtete ihren Oberkörper auf und betrachtete Evrèls Gesicht durch einen Schleier aus Tränen. Der Schein des blassen Mondes tauchte ihn in ein unwirkliches Licht. Sie durfte ihn nicht sterben lassen. Nicht nach allem, was er für sie getan hatte. Émines Liebe brannte heißer denn je, vergessen waren die Jahre, in denen er sie belogen und anschließend gemieden hatte. Seine Absichten waren stets die besten gewesen.
In der Ferne bellte ein Hund. Bellte wieder. Ein anderer Hund antwortete. Die Geräusche und Gerüche der
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