5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
vermissen. Ein kalter Wind wehte, und die Dunkelheit ließ das Auge kaum weiter als bis zur großen Eiche blicken, die direkt neben dem Haus ihre knorrigen Äste über das Dach hinwegreckte. Die Blätter raschelten im Wind und gaben einen gelegentlichen Blick auf den fast vollen Mond frei. Das tanzende fahle Licht, das durch die Zweige hindurchschien, warf groteske Schatten auf das flache graue Dach.
Jacques kletterte hinter Émine durch die Luke und ließ die schwere Holzklappe mit derselben Leichtigkeit zurückschnellen, mit der er sie geöffnet hatte. In der fast völligen Dunkelheit erkannte Émine das rötliche Flackern in seinen Augen. Sie hatte sich all die Jahre betrügen lassen, nicht nur von Evrèl, sondern auch von ihrem eigenen Mentor. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wandte rasch den Kopf ab. Erst jetzt bemerkte Émine, dass jemand vier gläserne Windlichte, in denen je eine Kerze flackerte, an den vier Ecken des Daches positioniert hatte. Ihr spärliches Licht vermochte die Umgebung nicht mehr zu erleuchten als das fahle Mondlicht. Als Émine den Blick auf den Boden richtete, erkannte sie ein mit weißer Kreide daraufgezeichnetes Symbol, das im Durchmesser etwa eine Manneslänge maß. Émine hatte ein derartiges Zeichen nie zuvor gesehen, es ähnelte einem Stern, war jedoch weitaus detailreicher. Es war rund und symmetrisch, zehn spitz zulaufende Zacken standen in regelmäßigen Abständen von einem Mittelkreis ab, der mit fremdartigen Schriftzeichen ausgefüllt war.
»Hat Bornelles Zauber gewirkt?« Die Stimme, die aus einer Ecke des Daches an ihre Ohren drang, ließ Émine vor Schreck zusammenzucken. Sie riss den Kopf herum. Drei weitere Männer befanden sich hier oben, verborgen in den Schatten und für jedermann unsichtbar, der nicht wusste, dass sie dort waren. Nur das schwache rote Glühen ihrer Augenpaare zeigte ihren Standort an. »Natürlich hat der Zauber gewirkt«, zischte Jacques, der wieder direkt hinter Émine getreten war und eine Hand auf ihre Schulter legte. »Glaubst du, ich könnte sie sonst ohne Schmerzen berühren, du Idiot?«
Émine durchforstete ihre Erinnerungen. Jacques hatte oft vermieden, sie anzufassen. Während ihrer ersten gemeinsamen Jahre hatte sie es für einen Ausdruck von Scham und Respekt gehalten, später hatte sie es seiner Gebrechlichkeit angelastet. Weshalb hatte sie nie einen Verdacht geschöpft?
Sie vernahm ein Fauchen, dann traten die drei Gestalten aus den Schatten heraus. Es waren Männer, einer von ihnen schien gerade erst dem Jünglingsalter entsprungen zu sein. Sein Haar war tiefschwarz und im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die anderen beiden waren älter, jedoch noch nicht gebrechlich. Einer von ihnen hatte schütteres Haar, flaumig und unansehnlich.
»Fangen wir an«, stieß einer der Asraviri hervor. In seinem Gesicht las Émine eine seltsame Mischung aus Euphorie und Unbehagen.
»Wir sind nicht vollzählig«, sagte der Jüngling.
»Sprichst du von Evrèl?« Der Mann mit dem schütteren Haar warf dem Jungen einen verärgerten Blick zu. »Jules, ich habe dir doch bereits gesagt, dass er ein Verräter ist. Ich habe ihn von Bornelles Salon aus mit der Kleinen beobachtet. Er liebt sie.« Die Erwähnung von Evrèls Namen ließ Émines Herz einen Schlag aussetzen. Nein, er irrte. Evrèl liebte sie nicht. Wie konnte man jemanden lieben, den man belog? Sie fühlte sich so verlassen und einsam wie nie zuvor in ihrem Leben. Alle, denen sie vertraut hatte, hatten sie verraten und verkauft. Es gab keine Gerechtigkeit auf Erden.
»Ich spreche in erster Linie von unseren Kameraden, die sich um Evrèls Ableben kümmern«, erwiderte Jules. »Wir sind es ihnen schuldig, auf sie zu warten. Nach all den Jahren kommt es nicht auf ein paar Minuten an.«
»Nicht nötig, dort sind sie.« Jacques, der noch immer direkt hinter Émine stand, deutete auf eine Stelle am Rand des Daches. Émine strengte ihre Augen an und konnte nur schemenhaft erkennen, wie sich zwei Krallen über die Dachbegrenzung schoben, gefolgt von einem Kopf. Nur einen Herzschlag später zog sich ein Körper hinterher. An einer anderen Stelle tauchten zwei weitere Klauen an der Dachkante auf. Sie suchten nach einem Halt, fanden ihn schließlich und förderten daraufhin den Körper eines Asravirs zutage. Émine sah sich nun mit sechs Ungeheuern konfrontiert, die ihr offensichtlich nach dem Leben trachteten. Sie vermochte ihren Gesprächen kaum zu folgen, denn das Blut
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