5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Sekunde mit dir genießen. Eine Liebe zu verlieren ist besser, als nie geliebt zu haben.«
Evrèl setzte zu einer Erwiderung an, doch sie erstickte seinen Protest mit einem erneuten Kuss. »Wir müssen fort von hier«, flüsterte sie, als sich ihre Lippen trennten. »Die Asraviri sind nicht tot, nur erblindet.«
»Ich muss wohl dankbar sein, zuvor vom Dach gefallen zu sein«, sagte Evrèl und lächelte sie an, diesmal reichte es bis zu den Augen hinauf. »Andernfalls hätte ich nie wieder sehen können, wie schön du bist.«
Émine senkte verlegen den Blick. Sie wussten beide, dass eine Liebe zwischen einem Eluvir, einem Engelskind, und einem Asravir, der Brut eines gefallenen Engels, schändlich und inakzeptabel war, doch der Widerstand gegen ihre Gefühle war im Licht der Ereignisse längst geschmolzen.
Evrèl erhob sich, klopfte sich die Holunderblüten vom Hemd und reichte Émine eine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie fühlte sich schwach, aber immerhin war sie wieder in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
»Eine Frage musst du mir noch beantworten«, sagte sie. Evrèl zog die Augenbrauen hoch und sah sie mit erwartungsvollem Blick an. »Du bist schon als Kind ins Grüne Heim gekommen«, fuhr Émine fort. »Hat Jacques gewusst, was du bist?«
Evrèl nickte. »Er war auch mein Mentor.«
Sie schwiegen. Einzig das Rascheln der Blätter im lauen Sommerwind drang an ihre Ohren. Es bedurfte keiner weiteren Worte. Sie ließen das Thema auf sich beruhen.
»Wir müssen fortgehen«, flüsterte Émine schließlich. »Ich kann an anderer Stelle ein neues Heim für Kranke errichten, und du wirst mein Mentor sein.« Die Überzeugung, die Émine in ihre Worte legte, duldete keinen Widerspruch. »Ich muss den Jungen mitnehmen. Der arme Perien kauert sicher noch immer verängstigt unter dem Bett. Ich möchte weit weg sein, wenn die Asraviri auf dem Dach wieder zu Bewusstsein kommen.«
Evrèl seufzte nur, in seinem Gesicht lag ein Ausdruck bittersüßer Kapitulation. »Du wirst Kranke heilen, während ich Menschen töten muss, um zu überleben«, sagte er. »Wir können so nicht weitermachen.« Seine Augen waren voll Liebe und zugleich voll Schmerz.
»Ich kann ohne dich nicht weitermachen.« Émines Stimme brach, Verzweiflung brannte sich in ihre Seele wie eine schwärende Wunde. Weshalb sprach er so direkt aus, was sie nicht hören wollte?
»Wirst du mich nicht ächten?«, fragte Evrèl. Er sah sie mit einem Ausdruck an, als bereite er sich auf große Schmerzen vor.
»Wir sind, was wir sind«, hauchte sie. In Ermangelung einer besseren Antwort besiegelte Émine ihr stummes Gelöbnis mit einem leidenschaftlichen Kuss. Im Osten graute der Tag.
Die Welt hat sich verändert. An der Spitze der Nahrungskette stehen nicht mehr wir Menschen, sondern die Gestaltwandler. Im Jahr 2014 kamen sie aus den Wäldern und Dschungeln, wo sie sich versteckt hatten, und nahmen ihren rechtmäßigen Platz ein. Die Menschen hatten versucht, sie zu vernichten, mit Waffen und Bomben, doch sie hatten sie unterschätzt. Denn Gestaltwandler sind keine wilden Tiere, sie sind halbe Menschen und ebenso intelligent. Körperlich sind sie sogar robuster. Sie heilen schneller und haben für Menschen unvorstellbare Kräfte.
Sie waren schon immer unter uns. Unbemerkt, da ihre menschliche Seite nicht von unserer zu unterscheiden ist. Doch ihre tierische Seite ist anders als jedes gewöhnliche Tier. Elefantengestaltwandler sind größer, Vogelgestaltwandler können schneller und weiter fliegen, und Raubtiergestaltwandler sind gefährlicher als ihre Artgenossen. Die Mischung aus beiden Naturen macht sie zu gefürchteten Gegnern. Sie haben sich gesammelt und vermehrt. Gewartet, bis sie so weit waren, um den Kampf gegen die Menschen zu führen. Um ihre wahre Seite zu zeigen, ohne Gefahr zu laufen, ausgerottet zu werden.
Und sie haben gewonnen. Wir Menschen leben zwar weiter wie bisher, doch mit dem Wissen, dass uns die Welt nicht allein gehört. Die Reviere der Gestaltwandler meiden wir lieber. Die Gestaltwandler sind keine gewalttätige Rasse, doch wenn es darum geht, die Ihren zu schützen, kennen sie keine Gnade.
1
Im Jahr 2028
Ihre Lippen sind blass. Ihr Gesicht weiß wie Schnee. Sie liegt auf dem kalten Waldboden, nackt, die Haut übersät mit blauen Flecken und Stichwunden. Aus den Wunden fließt kein Blut mehr. In ihren weit aufgerissenen Augen ist kein Leben.
»Uhhh!« Ich hole endlich wieder Luft. Doch damit begreife ich erst das,
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