5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
leicht den Kopf und machten sich in Richtung der Unterkünfte auf. Die Krankenschwester verknotete Kellys Verband und legte einen Verwundetenschein neben das Whiskyglas, den Kelly ohnehin dort liegen lassen würde. Niemals würde sie zugeben, dass es ihr zum Arbeiten zu schlecht ging.
»Cassriel, das galt auch für Sie.«
»Ich wusste nicht, dass diese Aussage uns alle einschließt«, raunte er, wieder mit dieser verführerischen Stimme. In solchen Momenten war ich froh, dass wir Fänger gegen den Charme der Engel insoweit immun waren, als unsere Gedanken sich nicht nur darum drehten, uns ihnen möglichst bald hinzugeben. Vielleicht auch. Aber nicht nur.
Seine Geste schloss ganz bewusst Liza mit ein, die noch immer zwei Schritte hinter mir stand.
»Liza wird bleiben.« In diesem Moment war meine Autorität unbestreitbar.
»Bei aller Höflichkeit, Miss Darcy – ich kann nicht glauben, was Kelly uns hier weiszumachen versucht, und Sie tun es auch nicht!«
»Auf Ihren Glauben verlasse ich mich auch nicht, Cassriel«, erwiderte ich so spitz, dass er zusammenzuckte und Kelly mir ein schiefes Grinsen zuwarf. Da fiel mir etwas anderes ein. Natürlich wusste Cassriel, dass ich dieser schwammigen Geschichte nicht glaubte, doch Kelly war zu schlau, um sich etwas vollkommen Unfundiertes auszudenken. »Ach, und Cass? Da der Überfall in Ihrem Stadtteil passiert ist, gehe ich stark davon aus, dass der Obdachlose, um den Kelly sich gekümmert hat, auf Ihrer Liste stand, richtig?«
»Was hat das damit zu tun?«, gurrte er scheinheilig und ich beschloss, das Wort »scheinheilig« auf die Liste mit Worten zu setzen, aus denen ich gute Wortspiele basteln konnte, um die Gefallenen zu beleidigen.
»Ich wünsche keine Obdachlosen mehr auf der Liste zu sehen, ehe Sie nicht die Diebe erfasst und gelistet haben, welche in Ihrem Gebiet ihr Unwesen treiben. Lieber ein paar Fälle mehr für die Heilsarmee als dieses kriminelle Pack.«
Finster begegnete sein Blick dem meinen, ehe er sich grazil entfernte und in der Menge verschwand.
»Sehr wohl, Miss Darcy.«
»Ich habe mich schon gefragt, wann er seinen hübschen Hintern endlich von hier wegbewegt«, versuchte Kelly zu witzeln, doch ich sah ihr die Schmerzen deutlich an. Ihre lilafarbenen Haare waren verschwitzt und zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden.
Ihre schwarze Arbeitsuniform hatte mal wieder einen viel zu weiten, unstandesgemäßen Ausschnitt. Normalerweise hätte ich sie wegen ihrer eigenwilligen Auslegung der Bekleidungsvorschriften gemaßregelt, doch im Augenblick beunruhigte mich ihr Oberarm viel zu sehr. Die Schnittwunde musste tief sein, denn selbst der kürzlich angelegte Verband war schon wieder durchgeblutet.
»Und Sie erzählen mir jetzt gefälligst, was passiert ist, Jackson.«
Kelly zuckte zusammen. An meinem Ton und meiner Wortwahl schien ihr deutlich zu werden, dass ich nun nicht mehr als frühere Freundin mit ihr sprach, sondern als Vorgesetzte und Leiterin des Instituts.
»Ich habe nicht mit Absicht gelogen.«
»Weiter«, ermahnte ich sie. Falls sie gehofft hatte, dass ich so etwas wie: Keine Angst, dich erwartet keine Bestrafung, sagte, hatte sie sich geirrt.
»Zunächst war alles wie immer. Ich habe meine Aufträge ausgeführt und bin in den Park zu dem Obdachlosen gegangen, dessen Seele ich einkassieren sollte. Alles war ganz normal. Und dann …«
Plötzlich begann sie zu zittern und wirkte wirklich verängstigt. Zuerst hatte ich vermutet, dass sie einfach nicht zugeben wollte, einen Anfängerfehler begangen zu haben. Ihre Reaktion deutete jedoch nicht darauf hin.
»Schon gut«, seufzte ich und ließ mich neben sie sinken. Liza deutete auf ihr Ohr, genauer gesagt, auf das kaum sichtbare Headset, und entfernte sich. Ich vermutete, dass sie nicht wirklich etwas empfing, sondern mir lediglich die Chance geben wollte, ungestört mit Kelly zu reden.
»Ich würde es mir selbst nicht glauben, aber ich schwöre, dass es wahr ist. Was geschehen ist, war vollkommen absurd, vollkommen surreal. Ich hatte gerade die Seele des Mannes gefangen und verstaut, als er wie aus dem Nichts angeschossen kam.«
Kellys Stimme überschlug sich, und sie zuckte vor Schmerzen zusammen, als ihr verletzter Arm mit dem Drang, ihre Worte durch Gesten zu untermauern, kollidierte.
»Als wer angeschossen kam?«
Aus ihrem rot geschminkten Mund kam ein wimmernder Laut und zwei Fängerinnen drehten sich zu uns um.
»Sch, ganz ruhig«, flüsterte ich, nicht mehr ganz so
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