5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
gezweifelt, dass du das Zeug dazu hast. Ich habe bloß angenommen, es sei unter deiner Würde.« Da war er wieder, dieser verschwörerische Ton seiner dunklen Stimme. All die Jahre über hatte ich sie mir immer wieder ins Gedächtnis gerufen, nur um sie nicht zu vergessen. Jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher, als sie niemals gehört zu haben. Sie niemals meinen Namen flüstertn gehört zu haben oder dieses Lachen zu kennen. Da war nur noch Hass.
»Es spielt aber keine Rolle. Grace, es ist wichtig. Wichtiger, als du es dir vorstellen kannst. Du musst mir zuhören. Du musst.«
»Ach, muss ich das?«, rief ich aus, wieder viel zu laut. Ich musste dieses ganze Institut am Laufen halten, musste zusehen, dass die Fänger und die Gefallenen keinen Krieg anzettelten, musste die Steuerabrechnungen machen und noch dringend ein Weihnachtsgeschenk für meine Tante Henriette besorgen. Was ich nicht musste, war, mir von irgendjemandem etwas sa gen zu las sen. Und was ich ganz sicher nicht musste, war, Matthew Delaware zuzuhö ren. Da konnte er seine Hände noch so sehr verkrampfen und noch so kläglich aus der Wäsche blicken.
»Ich hatte dich anders in Erinnerung«, fuhr ich fort und taxierte ihn mit allem Zorn, den ich über die Jahre angestaut hatte.
»Als selbstgefälligen Arsch.« Verräter . Er war ein Verräter, ein Deserteur. Wieso benutzte ich das Wort dann nicht? Ein Wort: Veränderung. Trotz seiner Art wirkte er nicht mehr wie der Visionär unter den Fängern. Matthew Delaware, der das Potenzial hatte, der Beste zu werden. Matthew Delaware, dem alles zuflog, während ich hart arbeiten und trainieren musste. Matthew Delaware, mit dem ich jahrelang Seite an Seite gekämpft hatte. Nein. Ich wollte mich nicht an die schönen Zeiten erinnern. Er sollte nicht aussehen wie der Mann, mit dem ich gekämpft und gelacht hatte. Aber er sah genauso aus, mit seinen breiten Schultern und den dunkelbraunen Haaren.
Er sah genauso aus wie damals. Vielleicht ein wenig ungepflegter. Dreitagebart. Schmutz. Ach verdammt, er sah genauso aus wie damals. Nein, so wollte ich nicht an ihn denken. Ich wollte an den Verräter denken, der er war.
Plötzlich lag da ein tiefer Schmerz in seinem Blick.
»Ich hatte dich genauso in Erinnerung«, flüsterte er und verkrampfte seine Hände noch stärker in seinem schwarzen, dreckigen Mantel. »Nur wärmer.«
Er hatte mich wärmer in Erinnerung? Das sagte der Mann, der mich zu einer Frau aus Eis gemacht hatte? Ich begann zu zittern, und das nicht vor Kälte, sondern vor unbändiger Wut.
»Ich würde vorschlagen, du verschwindest von hier, bevor noch andere Leute auf die Idee kommen, sich mit dir darüber auszutauschen, wie sie dich in Erinnerung haben. Ich nehme an, das würde dir nicht gefallen.« Das Raunen der Menge gab mir recht. Hilflos senkte Matt den Kopf, doch es war Kelly, die sprach.
»Warte! Bitte, Grace!« Verzweifelt sprang sie auf und stellte sich zwischen uns.
»Wenn er eine Ahnung von dem hat, worüber wir gerade geredet haben, dann kann er uns helfen.«
Erst jetzt erinnerte ich mich an Kellys Worte über den vermeintlichen Engelsangriff. Und an Matts Einmischung.
»Was auch immer du glaubst, gesehen zu haben, Kelly …« Ich holte langsam Luft und blickte wieder Matt an. »Es ist es nicht wert, mit dieser Person zu reden.«
Damit war die Sache erledigt. Liza fasste Kelly an der Schulter, und Matt wandte sich mir noch einmal zu, bevor er sich den abfälligen Blicken der Fänger aussetzte und endlich Anstalten machte, den Security-Leuten zu folgen.
»Gott, Grace!«, schrie Kelly auf und machte sich von Liza los.
»Was auch immer ich gesehen habe, ist zu wichtig, um es zu ignorieren! Ich habe dein Vertrauen nie missbraucht. Ich weiß, was er dem Institut, was er uns angetan hat. Aber Grace, er weiß das auch! Er wäre das Risiko nicht eingegangen, wenn er nicht müsste. Hierher zurückzukehren wäre doch viel zu gefährlich!«
»Kelly«, raunte ich, und sie zuckte zusammen, entschuldigte sich jedoch nicht. »Bedenke, dass wir nicht objektiv sind!«, flüsterte sie.
»Kelly, danke«, seufzte ich, denn sie hatte recht. Obwohl mir die Gesamtsituation nicht passte und dieses Gespräch eine Richtung einschlug, die mir überhaupt nicht gefiel.
»Liza, was meinst du?«
Alle Augen im Raum richteten sich auf Liza. Einen Moment lang schien sie zu überlegen, dann nickte sie.
»Lasst ihn sprechen.« Ihre Stimme klang sicher, nicht bittend. Einen Moment lang schaute ich mich im
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