5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
massieren.
Im verglasten Fahrstuhl war ich versucht, mich in das rote Sofa fallen zu lassen, welches so altertümlich und antik aussah, dass es so gar nicht zum gläsernen Fahrstuhl passen wollte. So war das gesamte Institut. Voller Gegensätze.
Die modernsten Anlagen und Sicherheitssysteme Londons, versteckt in einem der ältesten Gebäude. Die Fänger hatten es bewusst gewählt, nachdem das ursprüngliche Hauptquartier den Bombardements der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen war. Das neue Hauptquartier war riesig und zentral und die umliegenden Gebäude standen nachts meist leer, sodass unser Treiben nicht auffiel. Tagsüber unterhielten wir eine Scheinfirma, zu welcher nur ausgewählte Menschen Zutritt hatten, die Vorgaben, Angestellte zu sein, schließlich musste ja auch irgendjemand in besagter Scheinfirma arbeiten. Fast hätte ich mich meiner Müdigkeit ergeben, als Liza nach nur zwei Stockwerken zu mir stieß. Einmal mehr bewunderte ich ihr Grinsen, das sie bei jeder Miss-Sunshine-Wahl auf das Treppchen katapultiert hätte. Als meine rechte Hand hatte Liza wohl am meisten zu erledigen. Selbst dem leidigen Papierkram gewann sie immer etwas Positives ab. Ich musste zugeben, dass Liza, war unser Verhältnis auch noch so professionell, die einzige Person war, die ich als Freundin ansah.
Während ich stillschweigend dastand und meine Müdigkeit niederkämpfte, lächelte sie mich an und reichte mir wie jeden Tag die üblichen zwölf getackerten Seiten des Tagesberichts. Ohne ein Wort der Begrüßung streckte ich meine Hand danach aus und fuhr gedankenverloren durch meine Haare, während ich die Seiten schnell durchblätterte.
»Zweiundsechzig sind für heute Nacht veranschlagt, der erste Durchgang kommt gerade wieder rein, der zweite rückt in zehn Minuten aus«, erklärte sie, als hätte sie erraten, dass ich heute nicht geneigt war, die Berichte komplett zu lesen.
»Besondere Vorkommnisse?«, fragte ich und arbeitete innerlich die tägliche To-do-Liste an Fragen ab, die ich Liza Abend für Abend stellte.
»Kelly wurde verletzt«, antwortete sie und musste lächeln, als ich eine Augenbraue hochzog.
Der Bericht von Kellys Verletzung verwunderte mich. Die Fängerin mit den lilafarbenen Haaren und der großen Klappe hatte ungefähr zur selben Zeit im Institut angefangen wie ich und sie hatte gute Aufstiegschancen gehabt, doch ihr Dickkopf hinderte sie daran, Anweisungen anzunehmen, Konflikte friedlich zu lösen oder eine gewisse Höflichkeit an den Tag zu legen.
»Sie hält sich eher bedeckt, was den Unfall betrifft. Eigentlich sollte sie lediglich eine Seele im Park einsammeln, ein alter Obdachloser, kurz vorm Erfrieren. Ein Dieb ist wohl irgendwie dazwischengeraten. Jedenfalls hatte er ein Messer dabei und hat sie am Arm getroffen.«
»Ich werde mit ihr reden. Wie viele sind mit Paul in der Nervenheilanstalt?«
»Zwei weitere Fänger«, antwortete Liza, doch ehe ich zum nächsten Punkt der Tagesordnung übergehen konnte, blickte sie fragend zu mir hoch (ich bin für eine Frau mit meinen fast ein Meter achtzig ziemlich groß, aber Liza ist wirklich winzig. Selbst mit ihren High Heels misst sie höchstens einen Meter sechzig).
»Du glaubst ihr die Geschichte nicht, was?«
»Wie bitte?«, wiederholte ich scheinheilig und etwas schneidend, doch Liza ließ sich nicht beirren.
»Kelly. Du glaubst ihr die Geschichte mit dem Dieb nicht.«
»Natürlich nicht«, antwortete ich seufzend. Manchmal glaubte ich, dass sie mit ihren treuen, hellblauen Augen tief in meine Seele hineinschauen konnte. Mein Herz hatte sie jedenfalls erweicht, als mir die kleine polnische Fängerin mit ihren hellblonden Haaren und dem Berg an Empfehlungen im Gang aufgelauert hatte und mir, mit meinem Lieblingskaffee bewaffnet, in wenigen Worten deutlich machte, wieso ich sie einstellen musste und wie unersetzlich sie für mich sein würde. Natürlich hatte ich sie trotzdem, weniger freundlich, hinausgeworfen und ihr zu verstehen gegeben, dass wir nur ausgewählte Fänger zu Vorstellungsgesprächen einluden und sie sich im Falle einer Einladung nicht direkt an die Leiterin des Instituts zu wenden hatte. Sie blieb jedoch auf eine unaufdringliche Art hartnäckig, sodass ich keine andere Wahl hatte, als ihr die schwerstmögliche Aufgabe aufzubrummen, um ihr zu zeigen, dass sie meinen hohen Anforderungen nie gerecht werden würde. Als sie drei Stunden später wieder vor meiner Bürotür stand und die Aufgabe bereits mit
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