5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Selbsterhaltungstrieb untergeordneter Säugetiere zu haben.
»Ich kann dich nicht alleine zu Mikael Abrahms gehen lassen, Grace. Wenn ich Mist baue, bade ich ihn selbst aus. Oder willst du mir etwa sagen, dass du nicht zu ihm gehen willst – oder gar schon dort warst?«
Da war er wieder. Dieser besorgte Blick.
»Ich bin mit Freunden verabredet«, fuhr ich ihn an und wich, so weit ich konnte, zurück. Was in diesem Fall unvorteilhafterweise nur zwei Schritte waren.
»Verdammt, Grace!«, entfuhr es ihm.
»Es tut mir leid«, sagte er dann leiser und atmete tief ein und aus.
»Grace. Ich habe viel riskiert, um aus dem Institut zu türmen und dich zu erreichen. Kannst du mir nicht wenigstens ein wenig vertrauen? Wir müssen zusammenarbeiten.«
Wir müssen zusammenarbeiten . Es klang zu sehr nach dem, was Oscar geschrieben hatte. Er vertraute mir, und ich nutzte ihn als Bauernopfer. Ich wollte ihn ausliefern. Ich musste ihn ausliefern.
»Ich treffe mich mit Freunden«, wiederholte ich so ausdruckslos wie nur irgend möglich.
»Mit verbundener Hand?«, entgegnete er schärfer, als das Messer es war, und blickte mich unverwandt an. Automatisch steckte ich meine Hände in die Taschen.
»Ja. Haushaltsunfälle passieren«, knurrte ich. Wieso reagierte ich auf seine Besorgnis so aggressiv? Was weckte dieser Mensch nur in mir?
»Ich glaube dir nicht. Du wirkst, als hättest du keinen einzigen Freund.«
Kein Sarkasmus, kein Spott. Es war nur eine Feststellung.
»Du riskierst dein Leben bei dem Versuch, ins Institut zu gelangen, um mich zu mobben. Jetzt riskierst du dein Leben bei dem Versuch, aus dem Institut hinauszukommen, um mich zu mobben.«
»Mit sichtlichem Erfolg«, antwortete er und musste lächeln.
Trotz dieser aussichtslosen, vollkommen bescheuerten Situation, trotz der Tatsache, dass ich diesen Menschen, der sein Leben riskiert hatte, um uns zu warnen, ausliefern musste, konnte ich mir in diesem Moment ein Lachen nicht verkneifen. Ein Lachen, bevor die Welt zerbricht.
»Was hältst du prinzipiell von Drinks?«, schlug er plötzlich aus heiterem Himmel vor.
»Du bist der Letzte, mit dem ich trinken gehen würde.«
»Aber wahrscheinlich der Erste, der dich heute Abend fragt«, sagte er grinsend.
»Und meine Pflichten als Leiterin vernachlässigen?« Schlagartig wurde sein Blick wieder eiskalt.
»Nein, um nicht verheult ins Institut zurückzukehren und den Putschversuchen von irgendwelchen Möchtegernchefs zum Opfer zu fallen, die dich als labil darstellen würden, noch ehe du richtig durch die Tür gekommen bist.«
Er wäre wirklich der bessere Leiter geworden. In einem anderen Leben.
9
Grace
London, eine Bar
Man weiß wirklich nicht, was Nervenkitzel ist, ehe man mit einem weltweit Gesuchten in eine Bar spaziert. Selbst in der dunkelsten Nische sitzend starb ich fast vor Panik.
»Du wirkst sauer«, sagte er, nachdem wir eine Zeit lang einfach dagesessen hatten, einen Tisch und eine gesamte Ewigkeit zwischen uns.
»Bin ich nicht«, antwortete ich schlicht und versuchte zu vermeiden, ihm in die Augen zu sehen. Wieso zweifelte ich heftiger, je länger ich ihn ansah? Ich versuchte, mir einzureden, dass es nichts bringen würde, ihn auszuliefern. Ich konnte nicht.
»Gracy.« Wieder diese sanfte Stimme. Wieso machte er es mir so schwer, ihn zu hassen? Wieso reichten seine Blicke, seine besorgte Stimme, um mich vergessen zu lassen, wie ich wegen ihm gelitten hatte?
»Nenn mich nicht so. Und starr mich nicht so an.«
»Ich hatte dich betrunken irgendwie erträglicher in Erinnerung. Fast umgänglich, möchte man meinen.«
»Ich bin nicht betrunken.«
»Weil Leiterinnen so was nicht machen? Leiterinnen weinen auch nicht.«
Ich blickte ihn zornig an.
»Das war kein Vorwurf.« Er senkte leicht den Kopf, um mir tief in die Augen zu blicken. Diesmal sah ich nicht weg.
»Das ist genau der Grund, wieso ich nie Leiter sein könnte, Grace. Das ist genau das, was die Leute an dir schätzen. Du hast Herz. Und das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke.«
Mit dieser Meinung war er ziemlich alleine auf der Welt.
»Was siehst du, wenn du mich ansiehst?«, flüsterte ich, und das war sicher keine dieser Fragen, die man stellen sollte, wenn man die Antwort nicht hören wollte.
»Eine einsame junge Frau, die ihren Platz in der Welt noch nicht gefunden hat.«
Wie auch, wenn die Welt sich ständig verändert?
»Und du – hast du deinen Platz gefunden?«, fragte ich und musste wieder an Oscar
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