5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
strich durch mein Haar. Ich konnte die ersten Tropfen auf meiner Haut fühlen, die vom sturmumwölkten Himmel auf uns hinabfielen. Es war mir bisher nicht bewusst gewesen, doch Friedhöfe hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Nirgendwo auf der Welt waren die Gefühle so ehrlich, so rein wie an einem Ort, der die letzte Ruhestätte von so vielen Menschen darstellte.
Noah hatte mich hergebracht, nachdem ich heute Morgen aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Ich hatte vorgegeben, mich von meinem alten Ich verabschieden zu wollen, doch im Grunde war das eine Lüge. Ich wollte mich nicht verabschieden. Ich konnte es einfach nicht.
Einmal zu sterben schien nicht zu genügen, denn jetzt stand mir dieses Schicksal erneut bevor, wenn ich nicht losließ. Noahs Worte hatten keinen Zweifel daran gelassen. Ich wusste, dass es sie dort draußen irgendwo gab, die Menschen, die alles hinter sich ließen und irgendwo anders neu anfingen, ohne zurückzuschauen. Doch ich gehörte nicht zu ihnen.
Aus meinem alten Leben mochte mir nur noch meine Schwester geblieben sein, doch das genügte mir. Ich war nicht bereit, sie zu verlieren und loszulassen – auch wenn ich sie nur aus der Ferne beobachten konnte. Ich war nicht bereit, zu vergessen, das wurde mir nun mit allen Konsequenzen klar. Ich würde Noah verletzen, seine Gefühle, und was da zwischen uns ganz zart aufkeimte. Und dann würde ich dem Tod noch einmal ins Antlitz blicken, würde noch einmal sterben …
Zu leben und eines Tages zu sterben war einfach, wenn man die Zeit dazwischen mit etwas füllen konnte, worin man einen Sinn sah. Mein Lebenssinn bestand lediglich darin, in diesem kurzen neuen Leben all das zu beenden, wozu ich in meinem alten Leben keine Chance mehr erhalten hatte, weil man es mir zu früh genommen hatte.
Ich beugte mich hinunter, legte meine Hand auf den Grabstein, dann auf die inzwischen beinahe verwelkten Lilien. Vielleicht war es doch ein Abschied und ich log nicht. Nur war es nicht die Art von Abschied, die Noah sich erhoffte.
Nach einem letzten Blick auf meinen Namen, der auf ewig in diesen Stein eingemeißelt war, ging ich zum Grab meiner Großmutter. Sie hatte mir so unglaublich viel bedeutet, war so wichtig in meinem Leben gewesen. Und auf einmal erschien es mir beruhigend und erstrebenswert, sie bald wiedersehen zu dürfen. Wenn mein Leben endete, begann auf der anderen Seite etwas anderes und ich würde all jene Menschen wiedersehen, die ich verloren hatte.
Tränen traten in meine Augen, doch diesmal ließ ich zu, was ich mir so lange verboten hatte. Es war in Ordnung, zu weinen und zu trauern, das wusste ich jetzt.
Ich blickte zu Noah, der einige Meter entfernt vor einem Grab stand, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, einen wehmütigen Ausdruck auf dem Gesicht. Mein Magen zog sich zusammen. Der Abschied von ihm fiel mir schwerer, als ich geglaubt hätte.
Ein letztes Mal blickte ich auf das Grab meiner Großmutter und dachte daran, wie ich sie in ihrem Apfelgarten auf der anderen Seite getroffen hatte. Sie hatte ihren Frieden gefunden.
Jetzt, wo ich mich nicht mehr dagegen sträubte und eine Entscheidung gefällt hatte, kehrten die Erinnerungen an mein altes Leben mit aller Macht zurück. Plötzlich fielen mir zahllose Kleinigkeiten wieder ein, kostbare Details wie der Duft von Mias Haar und ihr helles Lachen. Die warme Umarmung meiner Großmutter. Oder die liebevollen Worte von Mum und Dad, welche sie Mia und mir jede Nacht vor dem Einschlafen zugeflüstert hatten.
Bald schon würde ich sie wiedersehen! Der Gedanke daran beruhigte mich, schnürte mir aber auch die Kehle zu. Ich hatte so viele Träume gehabt, hatte noch so viel erleben, so viel tun wollen, doch davon war jetzt nichts mehr übrig.
Aufkeimender Schwindel zwang mich dazu, für einen Moment die Augen zu schließen. Es würde schlimmer werden. Das hier war nur der Anfang. Doch ich hoffte, dass mir, wie den anderen Zurückgesandten, noch ein paar Tage oder sogar Wochen blieben, um mit meinem alten Leben abzuschließen und mich von Mia zu verabschieden.
Meine Finger legten sich an meine Lippen und gleich darauf an den Grabstein. Er fühlte sich warm an. Als würde er meine Entscheidung besiegeln.
»Bis bald«, flüsterte ich. Mit zittrigen Beinen richtete ich mich auf und ging, ohne mich noch einmal umzudrehen, zu Noah hinüber. Er stand noch immer vor demselben Grabstein und starrte darauf. Es war ein Familiengrab. Mein Blick wanderte über die einzelnen
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