5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
geriet.
Mein Kopf gab diesen Befehl an meine Beine weiter, doch setzte ich mich nicht in Bewegung. Wie festgewachsen stand ich vor Mias Haus und starrte hinüber. In diesem Moment kam meine große Schwester aus dem Haus, doch das glückliche Lächeln, das gestern noch auf ihren Lippen gelegen hatte, war verschwunden. Selbst von Weitem sah sie verstört aus. Ihr Gesicht wirkte blass, die Lippen waren fest zusammengepresst und unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Was war passiert?
Instinktiv trat ich einen Schritt auf sie zu, zwang mich jedoch dazu, stehen zu bleiben. Jeremy stürmte aufgebracht aus dem Haus, hielt Mia fest und redete auf sie ein. Sie schüttelte mehrfach den Kopf und ihr Schluchzen drang trotz der vorbeifahrenden Autos bis zu mir durch.
Ich hatte die beiden noch nie streiten gesehen. Vor allem aber hatte ich meine Schwester noch nie so unglücklich gesehen wie in diesem Moment. Selbst nach Grandmas Tod hatte sie sich zusammengerissen und genau wie ich möglichst viel Stärke gezeigt. Doch jetzt war sie am Boden zerstört, und Jeremy schien es nicht besser zu machen, indem er mit lauter Stimme auf sie einredete.
Ich konnte nicht einfach hier stehen und meine Schwester leiden sehen. Ganz egal, was ich mir vorgenommen hatte. Ich musste etwas tun.
Wie in Trance machte ich einen weiteren Schritt, dann noch einen, und näherte mich Mia und Jeremy.
Ein plötzliches Hupen riss mich so abrupt aus meinen Gedanken, dass mir keine Chance zum Reagieren blieb. Bremsen quietschten. Ein schwarzes Auto näherte sich mir mit viel zu hoher Geschwindigkeit. Ich hielt den Atem an und dann … packte mich jemand ruckartig von hinten und riss mich von der Straße weg. Ich hörte ein Keuchen an meinem Ohr, dicht gefolgt vom Abbremsen des Autos einige Meter weiter. Der Fahrer stieg aus und schrie etwas herüber, das ich nicht verstand. In meinen Ohren rauschte es.
»Hast du den Verstand verloren?« Der feste Griff um meinen Körper löste sich und die plötzliche Freiheit ließ mich schwanken. Ich blinzelte gegen den Schwindel an. Als ich aufsah, stand Noah vor mir, sein Gesicht vor Wut verzerrt. »Willst du dich umbringen? Ist es das, was du willst?«
»Ich … «, brachte ich mühsam hervor und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Ich schüttelte den Kopf, versuchte mich an ihm vorbeizuschieben, doch ich sah nur noch, wie Mia mit Jeremy zurück ins Haus ging. Tränen brannten in meinen Augen.
»Was ist los mit dir, Kara?« Noahs Stimme klang ruhiger, doch ich konnte die unterdrückte Wut sehr gut raushören. Ebenso wie seine Enttäuschung.
»Ich wollte doch nur … «, begann ich und drehte mich zu ihm um. »Sie haben sich gestritten, Mia sah so unglücklich aus und ich … «
»Du musst loslassen«, unterbrach er mich unbarmherzig. »Du kannst nicht mehr für sie da sein, Kara!«
»Wie soll das gehen?«, schrie ich ihm entgegen. Etwas in mir setzte aus. Es war mir egal, ob uns jemand hören konnte. Oder ob Mia uns sah. Sie würde mich ja ohnehin nicht erkennen. »Konntest du damals einfach loslassen?«
»Ich hatte keine Wahl!«, schoss er zurück und packte mich an den Schultern. »Aber du hast eine, Kara. Du hast eine zweite Chance. Wirf sie nicht weg!«
Ich schüttelte den Kopf, riss mich von ihm los und stolperte zurück. Was für eine Wahl hatte ich denn? Mein altes Leben vergessen und weiterleben? Oder sterben, weil ich nicht loslassen konnte?
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«, murmelte ich nach einer Weile und fuhr mit dem Handrücken über meine schmerzende Stirn.
»Ich kann dich spüren.« Besorgt sah er mich an. All seine Wut schien verraucht zu sein.
»Was meinst du mit spüren ?«
Wieso war mir auf einmal so schwindelig? Es fühlte sich an, als wäre da ein Wirbelsturm, der sein Zentrum in meinem Kopf hatte und von dort aus nach unten wanderte. Der Schwindel ließ mich heftig blinzeln, und mir brach der Schweiß aus. Nadelspitzen bohrten sich in meine Haut.
Noah trat einen Schritt auf mich zu. Er sagte etwas, doch in meinen Ohren pochte es so heftig, dass ich kein Wort verstand. Sein Gesicht war das Letzte, was ich sah, bevor meine Knie nachgaben und der schmutzige Asphalt auf mich zukam.
9
Ein Piepen weckte mich. Der stete Rhythmus bohrte sich in die Dunkelheit und führte mich an einen Ort, wo sich unter das gleichmäßige Piepen ein heiseres Stöhnen mischte. Es dauerte einige Momente, bis mir klar wurde, dass es aus meinem Mund gekommen war. Ich versuchte die
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