5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
Herzen setzte ich mich auf und sah mich um. Von Noah keine Spur. Ich lauschte, doch bis auf die Geräusche zwitschernder Vögel und vorbeifahrender Autos war nichts zu hören. Ich atmete erleichtert aus und schloss für einen Moment die Augen.
Meine Wangen wurden warm, als meine Gedanken zum vergangenen Abend wanderten. Noah war so lieb gewesen, hatte mich sogar die Treppe hoch in mein Schlafzimmer getragen. Und dann der Kuss …
Mit einem tiefen Seufzen ließ ich mich zurück in die Kissen fallen und starrte an die Decke. Sogar jetzt vermeinte ich noch, seinen Duft wahrnehmen zu können. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, konnte die Hitze in meinem Körper aber nicht vertreiben. Wow! Gestern war es einfach … unglaublich gewesen. Gleichzeitig war ich froh, dass wir nicht weitergegangen waren. Denn schließlich kannte ich ihn ja erst seit rund vierundzwanzig Stunden. Ganz davon abgesehen wollte ich mein bisheriges Leben nicht einfach so aufgeben. Zumindest nicht, was Grandma und Mia betraf. Und Josh … ?
Ich atmete tief durch, schob die Gedanken beiseite und zwang mich zum Aufstehen. Meine Füße trugen mich ins angrenzende Badezimmer, wo ich es vermied, in den Spiegel zu sehen. Mein Äußeres war mir noch immer nicht vertraut genug, um den Anblick so leicht ertragen zu können. Vielleicht würde ich mich nie daran gewöhnen können und ich würde mir äußerlich immer fremd bleiben. Doch wenn Noah Recht behielt, verschwand mein altes Leben nach und nach und wurde von meinem neuen ersetzt. Ein gruseliger Gedanke.
Genervt schmiss ich meine Sachen in den Wäschekorb und trat unter die Dusche. Schon wieder hatte Noah sich in meine Gedanken geschlichen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob der gestrige Abend etwas zu bedeuten hatte. Von meiner Seite aus war es nicht bloß aus Dankbarkeit oder dem dringenden Wunsch nach Trost geschehen. Ein merkwürdiger Gefühlscocktail brodelte in meinem Inneren. Ich mochte Noah. Ich hatte ihn sehr gern, vielleicht sogar mehr als das. Gleichzeitig konnte ich aber nicht einfach loslassen und meine Vergangenheit vergessen.
Das warme Wasser weckte nach und nach meine Lebensgeister. Da ich kaum etwas von diesem neuen Leben wusste, beschloss ich, mich um das Naheliegendste zu kümmern. Mein Auto stand noch immer in der Nähe von Mias Haus und wartete darauf, abgeholt zu werden. Ich konnte nicht immer darauf bauen, dass Noah mir zur Seite stand. Er hatte sein eigenes Leben und war nicht mein persönlicher Schutzengel.
Seufzend stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und wagte einen Blick in den beschlagenen Spiegel. Mein Magen zog sich zusammen. Wie sollte ich mich nach fünfundzwanzig Jahren an ein völlig neues Gesicht und einen neuen Körper gewöhnen? Das war verrückt. Absolut verrückt und noch dazu unmöglich.
Entschlossen ging ich zurück ins Schlafzimmer, zog die erstbesten Kleidungsstücke aus dem Schrank hervor und kleidete mich an.
Es war an der Zeit, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen – besser gesagt meine beiden Leben. Ich wollte nicht undankbar sein, denn eine zweite Chance erhielten mit Sicherheit nicht viele Menschen. Zugleich aber waren mir mein altes Leben und vor allem die Menschen darin noch immer wichtig. Ganz egal was Noah über die anderen Zurückgesandten sagte. Mir würde es nicht so ergehen.
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauerte die Fahrt zu Mia deutlich länger. Auf Noah zu warten, fehlte mir die Geduld. Wer weiß, vielleicht blieb er nach gestern Abend auch ganz fort. Ich biss mir auf die Unterlippe, bis sie schmerzte. Nein, daran wollte ich nicht denken.
Während der Fahrt schrieb ich alles auf, was mir in den Sinn kam. Sollten meine Erinnerungen tatsächlich von Tag zu Tag verschwommener werden, wollte ich sie so klar wie möglich festhalten. Sie aufzuschreiben erschien der einzig logische Schritt zu sein, um mich auch später noch erinnern zu können.
Als ich endlich ankam, war meine Nervosität noch größer. Eigentlich völlig absurd, denn ich hatte nicht vor, Mia zu besuchen oder mit ihr zu reden. Ich wollte nur mein Auto abholen. Außerdem würde sie mich sowieso nicht erkennen und mich bestenfalls für verrückt halten, wenn ich ihr alles erzählte. Diese Erkenntnis war bitter und tat weh.
Nur wenige Meter von Mias Haus entfernt stieg ich aus dem Bus. Die Luft war stickig und schwer. Wolkenberge türmten sich über mir auf. Höchste Zeit, schnell in mein Auto zu springen, bevor ich in ein heftiges Gewitter
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